#nice 2 read

PUBLIKATIONEN

TRAUMA TRIFFT AUF PANDEMIE

COVID-19 AUS DER PSYCHOTHERAPIEPRAXIS
von Eva Schoofs

Ich möchte behaupten ich gehöre zu den Menschen, die gerne neue Dinge ausprobieren und sich neuen Herausforderungen stellen. Letztes Jahr zum Beispiel bin ich Fallschirm gesprungen, aus 4.000 m Höhe aus dem Flugzeug und ich bekomme jetzt noch Herzklopfen und einen Adrenalinschub, wenn ich daran denke. Unglaublich. Generell bin ich jemand, der Neuem und Veränderung eine Chance gibt und relativ flexibel auf Situationen reagieren kann. Und dann war 2020 und es kam Corona…

Auf einmal machen wir alle neue Erfahrungen. Gezwungener Maßen. Auf einmal passieren Dinge, die wir alle noch nie erlebt haben. Und plötzlich sind wir alle, wirklich alle, mit einer Pandemie konfrontiert, wovon wir bis Anfang 2020 noch nicht einmal genau wussten, was das eigentlich genau bedeutet. Und jetzt ist sie da und bringt Ungewissheit, Verunsicherung und Angst mit sich. Lässt Millionen Menschen erkranken, hunderttausende sterben und bringt unsere Wirtschaft in eine bedenkliche Lage. Ich kann mich noch sehr gut an den Moment erinnern, an dem meine Schwester, die Lehrerin ist, mich anrief, um mir mitzuteilen, dass das Schulministerium informiert habe, dass die Schulen in Deutschland schließen werden. Alle. Erst da hab ich angefangen zu begreifen, dass Corona doch mehr als eine schlappe Grippe ist und Dinge passieren können, die ich bisher noch nicht kalkuliert hatte. Die wir alle nicht kalkuliert hatten, wie sich herausstellen sollte.

Wir schreiben Geschichte. Auf so ganz andere Art und Weise, als ich mir erträumt hatte. Und anstelle von Ruhm, Glanz und Konfetti gibt es Angst, Hamsterkäufe und soziale Isolation.

Die Folgen des Shut-Downs sind gerade erst dabei in Erscheinung zu treten und was am Anfang vor den Osterferien in einigen Winkeln so aussah wie Entspannung, Durchatmen und relaxen entpuppt sich jetzt zu etwas anderem, Undefinierbarem, mit dem unguten Gefühl, dass es vielleicht nie wieder so wird, wie es mal war.

Eine Psychotherapiepraxis fängt in solchen Situationen an, augenscheinlich etwas ruhiger zu werden. Das war die Phase, in der zunächst alle das gute Wetter im Garten genutzt haben und die willkommene und spontane freie Zeit genutzt haben. In der es erste Irritationen darüber gab, ob Termine bei der Therapeutin nun wichtig sind oder nicht und wahrgenommen werden sollen, oder nicht. Da zeigt sich direkt nochmal aus einem ganzen anderen Blickwinkel, wer tatsächlich Behandlungsbedarf hat und wer nicht. Wer Angst hat. Wer nicht weiter weiß. Die schlauen Köpfe der Techniker haben Gott-sei-Dank sofort reagiert und die Möglichkeit der Videosprechstunde in kürzester Zeit als zulässige Behandlungsmaßnahme etabliert. Etwas, was in weiter Zukunft mal irgendwann hätte kommen sollten, kopfbeschüttelt von vielen Kollegen und für Patienten vor Wochen noch unvorstellbar.

Der Schein der Ruhe trügte, denn letztendlich war es nur die Zeit, in der beobachtet wurde, ob die Gedanken zum Worst-Case-Szenario ausgesprochen werden durften. War es die Zeit, in der abgewartet wurde, ob auch andere sich genauso viele Sorgen machten.

Und spätestens bei den ersten Hamsterkäufen ist vielen klar geworden, dass es um mehr geht, als um 3 freie Wochen und Entspannung. Da ist zum ersten mal deutlich spürbare Verunsicherung und Angst aufgekommen.

Einige Freundinnen und Bekannte konnten auf Grund des Shutdowns nur wenig oder gar nicht arbeiten, sodass viel freie Zeit entstand „Eva, was machst du denn so den ganzen Tag?“, „Eva, von dir hört man gar nichts…!“ Leider nein, denn von diesem Zeitpunkt an ist die Praxis und mein Pensum auf 150% hochgefahren und ich möchte behaupten, da ist es noch heute. Der Grund, warum ich den Artikel auf den letzten Drücker schreibe, in den letzten Wochen meist nicht vor 12 ins Bett gekommen bin und mir trotzdem genau jetzt 100 Sachen einfallen, die mir dennoch durch die Lappen gegangen sind. Weil ich 59 Kreativ-Videos gedreht habe, täglich, um einen Patienten Ideen zu geben, wie sie den Tag gestalten können. Weil alles umgestellt werden musste auf online, alle wieder Bedarf hatten zu reden und die Angst irgendwo hin wollte.

Und die ganzen Reaktionen haben einen verständlichen Grund, denn was da gerade bei uns und mit uns passiert, ist zum einen sehr viel und zum anderen sehr tiefgreifend.

Um es gut erklären zu können muss ich vorne anfangen: wir alle haben ähnliche Bedürfnisse, die befriedigt sein müssen, damit es uns psychisch gut geht und wir glücklich sein können. Zum einen sind das die physischen Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wärme und Wasser, aber zum anderen auch die psychischen Grundbedürfnisse, die weitaus weniger ersichtlich sind, aber in Zeiten wie diesen eine große Rolle spielen und Erklärungsansatz für fast alle seltsamen Verhaltensweisen sind, die Covid-19 mit sich gebracht hat. Die psychischen Grundbedürfnisse sind nach dem wunderbaren Herrn Grawe das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, nach Bindung, nach Selbstwerterhöhung und nach Lustgewinn und Unlustvermeidung. Diejenigen, die das schon öfter von mir gehört haben und praktisch mitsprechen können, springen einfach zum nächsten Abschnitt.

Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle bedeutet, dass wir gerne ein gewohntes Umfeld haben und gerne wissen, was passiert. Wir mögen Rituale und gleichbleibende Strukturen. Meist nutzen wir immer die selben Strategien, wir stehen um die selbe Zeit auf, kaufen in den selben Läden, essen zur selben Zeit, fahren den selben Weg zur Schule oder zur Arbeit und spazieren am Sonntag oft die selbe Runde. So sind wir. Gewohnheitstiere. Durch unsere Rituale fühlen wir uns sicher.

Das Bedürfnis nach Bindung hat etwas mit Liebe und Zugehörigkeit zu tun. Wir mögen die Gemeinschaft und das Gefühl, Menschen um uns herum zu haben, die wir mögen und die uns gern haben. Das gibt ein Gefühl von Sicherheit und lehnt auch gleich am nächsten Punkt der Liste an. Beziehung sorgt dafür, dass wir uns gebraucht und wertvoll fühlen. Dass wir ein Mehrwert sind.

Wir brauchen außerdem Ereignisse die den Selbstwert erhöhen, Erfolgserlebnisse, Selbstwirksamkeitserfahrungen, das Gefühl, etwas gut zu können. Damit fühlen wir uns glücklich und zufrieden. Das motiviert uns neue Dinge zu lernen und uns zu entwicklen. Unser Motor.

Der letzte Punkt auf der Liste ist das Streben nach Lustgewinn und die Vermeidung von Unlust, was bedeutet, dass wir psychisch nur zufrieden sein können, wenn wir oft Dinge tun können, die uns Spaß machen. Wenn wir oft und lange gezwungen sind, Dinge zu tun, die wir nicht mögen, die uns langweilen oder die wir ablehnen, dann wird uns das auf Dauer sehr unglücklich machen. Ich kann das in der Praxis bei vielen Eltern im Job beobachten. Oder sogar in der Ehe. Eigentlich gefällt es ihnen gar nicht, ist der Job nur noch nervig und die Partnerschaft weit entfernt von dem, was man sich gewünscht hatte, aber der soziale Druck, was passiert, wenn man sich verändert und die Ungewissheit, wie es dann wird, lässt die Menschen aushalten. Oft mit den Folgen einer Depression. Weil langfristig das Bedürfnis nach Lustgewinn nicht gedeckt ist und die Psyche irgendwann reagiert.

Aber was hat das alles jetzt mit Corona zu tun. Letztendlich eine ganze Menge, denn eigentlich werden all diese psychischen Grundbedürfnisse aktuell gestört. Der Reihe nach: Orientierung und Kontrolle ist völlig durcheinander, weil aktuell nichts mehr so ist, wie wir es kennen. Viele Geschäfte, in denen wir eingekauft haben, waren nicht geöffnet. Bei vielen Erwachsenen haben sich die Arbeitsstrukturen verändert von Kurzarbeit, über Homeoffice oder kompletten Ausfall. Welche Gedanken finanzieller Natur sich dahinter auftun ist ein weiteres Thema. Die Kinder können nicht mehr in die Schule oder in den Kindergarten, der Tagesablauf sieht auf einmal völlig anders aus und dem Hobby nachgehen zum Ausgleich zu dieser ganzen Veränderung kann man nicht, weil auch da Corona herrscht. Unser kompletter Ablauf wurde gestört, unseren Ausgleichsstrategien können wir nicht mehr nachkommen und treffen, um uns auszutauschen ist auch nicht mehr möglich. Uns wurde eigentlich jegliche Orientierung genommen. Und das meine ich nicht kritisch gegenüber dem System, ich bin fest davon überzeugt, dass diese Maßnahmen unabdingbar waren, um Corona in den Griff zu kriegen. Wir sind leider den Umständen ausgeliefert. Veränderte Öffnungszeiten, Anstehen vor dem Supermarkt, keine öffentlichen Besuche mehr möglich, Ausgang nur zu zweit oder mit den Menschen aus dem Haushalt. Wer hätte gedacht, dass uns das jemals passieren könnte. Ich jedenfalls nicht.

Gleich angeschlossen daran ist unser Bedürfnis nach Bindung. Glück haben letztendlich alle die, die mit Familie zusammen oder in einer WG wohnen. Für alle die, die alleine wohnen bedeutete die letzte Zeit fast ausschließlich Isolation. Gut, wenn man ein Haustier hat, gut, wenn man Freunde hat, die bereit waren, sich zu treffen. Schlecht, wenn man älter ist und vor allem zu einer Risikogruppe gehört. Denn der Kontakt zur Außenwelt hat sich minimiert. Ich habe in den letzten Wochen schon unfassbar viele frustrierte Erwachsene getroffen, denen die Sozialkontakte enorm fehlten und die beschrieben, wie genervt sie von der Situation waren. Wie schrecklich es war, als der Zustand von „ach wie entspannend – Zeit für mich“ in „oh mein Gott, ich bin so einsam“ wechselte und unerwartet aufs Gemüt schlug. Und dabei rede ich nicht von einer schlechten Laune und Unzufriedenheit, sondern von einer sich einschleichenden tiefen Einsamkeit, die Konsequenzen wie Antriebslosigkeit und destruktive Gedanken mit sich bringt. Einsam sein konfrontiert viele von uns mit tiefen Ängsten. Eine weitere Belastung auf der Liste der psychischen Gesundheit.

Selbstwerterhöhung ist der nächste Punkt auf der Liste und auch der wurde stark vernachlässigt. Weil wir den Dingen, die wir gerne machen, für die wir Bestätigung bekommen, nicht mehr oder nur noch beschränkt nachgehen konnten: was passiert mit uns, wenn uns Lob und Bestätigung fehlt? Wenn wir keine Erfolgserlebnisse mehr haben in dem Gebiet, in dem wir eigentlich gut sind? Es wirkt sich auf die Stimmung und die Motivation aus! Wenn die positive Rückmeldung ausbleibt, dann macht es weniger Spaß, dann haben wir weniger Durchhaltevermögen und sehen oft den Sinn im Weitermachen und Streben nach Besserem nicht. Und gerade jetzt ist Durchhaltevermögen und Ausdauer mehr gefragt denn je. Und die positive Überzeugung, dass alles wieder gut wird. Nicht so einfach bei all dem, was gerade fehlt.

Lustgewinn und Unlustvermeidung konnte auch nicht wie gewohnt verfolgt werden, da viele Dinge, auf die wir Lust haben, schlichtweg nicht stattgefunden haben. Einen Nachmittag in der Stadt, ein Abendessen mit Freunden im Restaurant, ein Tag am See mit den Freunden der Kinder. Wir waren gezwungen uns mit dem zu begnügen was da war, Kartoffeln statt Nudeln oder Reis, Onlineshopping statt Kauferlebnisse im Laden, Videoanrufe statt Kaffee im Garten. Die Einschränkung war überall sehr deutlich zu spüren, die Straßen leergefegt und still, die Kölner Innenstadt glich einer Geisterstadt. Niemand auf der Straße, überall Zettel „aufgrund der aktuellen Lage…“, verschreckte Gesichter und huschende Gestalten. Dass ich das erleben werde, hätte ich nie gedacht. Und wir alle sind beeinträchtigt, weil keines der Grundbedürfnisse mehr so erfüllt ist wie wir es gewohnt sind. Auf unbestimmte Zeit. Gepaart mit der Angst zu erkranken, Menschen zu verlieren oder sogar selber zu sterben.

Und was dazu nicht außer Acht gelassen werden kann: das zur Ruhe kommen vor den Osterferien, zu dem viele Menschen gezwungen waren, ist nicht immer erholsam und entspannend. Vielleicht in einem kurzen Moment, indem wir verschnaufen und uns freuen, dass wir frei haben. Aber dann, wenn wir so langsam Unruhe merken und den Fakt, dass wir uns nicht selber für die Auszeit entschieden haben, sondern gezwungen sind, dann wollen wir wieder in unseren gewohnten Rhythmus und los legen. Unser Alltag ist nämlich auch eine Art Ablenkung. Ablenkung von unseren Gedanken, Problemen, von unseren tiefsten Ängsten, von unseren Glaubenssätzen, Zweifeln und dunklen Seiten. Und all das kommt zum Vorschein, wenn wir nicht mehr abgelenkt sein können und uns auf uns fokussieren können. 

Manche Menschen lassen diesen Zustand absichtlich aufkommen, in dem sie beispielsweise in ein Schweigekloster gehen. Wochenlang nur mit sich selbst beschäftigt sein ist nicht langweilig, ganz im Gegenteil. Nach einiger Zeit kommen genau die Themen auf, die uns zutiefst beschäftigen und auf die wir meistens keine Lust haben. Sie holen uns ein. Und für diese tiefen Gedanken und Ängste gibt es zwei Möglichkeiten. Sich ablenken oder sich stellen. Sich ablenken ist eine bewährte Methode, die fast jeder täglich benutzt. Ablenken durch Alltag, durch Aufgaben, durch auferlegte Pflichten. Ablenkung funktioniert phantastisch. Aber wir lassen damit den echten, inneren Kern nicht zu. Denn der würde uns mit unseren tiefsten Ängsten und Sorgen konfrontieren. Und dann müssten wir aushalten. Eigentlich dauert ein Gefühl nur einige wenige Minuten und dann ebbt es wieder ab, wenn wir es einfach kommen lassen, es aushalten und auch wieder gehen lassen. Manchmal aber kommen da so ursprüngliche und tiefe Sachen hoch, die wir partout nicht aushalten wollen, weil wir denken, dass wir daran zerbrechen. Tun wir gar nicht, aber es fühlt sich für einen Moment so an. Letztendlich ist Aushalten und sich dem stellen der einzige Weg, darüber hinweg zu kommen und das Thema für sich zu bearbeiten, es aus dem Weg zu räumen, damit leben zu können. Aber es ist auch anstrengend. Und genau diesem Zustand sind einige Menschen in letzter Zeit ausgesetzt gewesen. Gezwungener Maßen. Weil die tägliche Routine und das abgelenkt-sein weg gefallen sind. Und nicht alle sind dazu gekommen, sich zu stellen und damit praktisch einen Schritt weiter zu gehen und sich zu entwickeln. Ich möchte behaupten das ist auch nicht in jeder Lebenslage möglich und eigentlich ist die Grundvoraussetzung für die Bearbeitung tiefer Ängste und Gedanken ein stabiles Umfeld und ein stabiler eigener Zustand. Den haben wir gerade aber nicht. Das beutetet es brechen Dinge auf, die in dem Moment nicht aufgefangen werden können. Einige Menschen sind auf komische Gedanken gekommen, haben sich neue Routinen und Ablenkungen entwickelt und somit kompensiert. 

Manche waren erschreckt über die eigenen Gedanken, über die Entwicklung der eigenen Ängste. Sind erstarrt, depressiv reagiert oder haben es mit Aktivismus im kleinen Kreis versucht zu überwinden. Mit Hilfe guter Selbstreflektion ist einiges möglich. Aber Selbstreflektion liegt ja noch lange nicht jedem.

Und einige sind auf ganz schräge Kompensationsideen gekommen. Und selbstverständlich kann man das nicht verallgemeinern, aber in manchen Fällen sind Kinder zu Schaden gekommen. Durch Überforderung und daraus resultierender körperlicher Gewalt. Durch zu kurz gekommene Bestätigung und Machtstreben in Erziehung oder in der Partnerschaft. Durch Übergriffe an den eigenen Kindern, um Spannungen abzubauen und sich Selbstwirksamkeit zu verschaffen. Und wir können trotzdem nur erahnen, was hinter verschlossenen Türen passiert. Einige Situationen haben mir in der Krise den Atem geraubt. Haben dazu geführt, dass ich den starken Wunsch hatte, in Quarantäne zu sein, um 2 Wochen weg von dem Wahnsinn und der Verantwortung zu kommen und einfach nur schlafen zu können. Um verdrängen zu können, dass es so was auf dieser Welt gibt. Aber Gott sei Dank sind diese Momente nur kurz und meine Funktionsmechanismen hoch. 

Und das was da draußen passiert sind die Reaktionen, die Menschen zeigen, wenn sie in belastende Situationen kommen. Und es erinnert an Traumata. Im traumatischen Kontext nennt man das Fight, Flight oder Freeze. Kampf, Flucht oder Erstarren.

Und genau diese Dinge sind gerade zu beobachten. Denn der Verlust der Kontrolle, den wir erleben, ist nicht für alle gut auszuhalten. Wir alle haben unterschiedliche Widerstandskräfte und verfügen über unterschiedliche Ressourcen und so kommt es, dass einige ruhig bleiben und beobachten, sich abschirmen und sich auf die eigenen Dinge konzentrieren, neue Strukturen schaffen und das beste aus der Situation machen. Es gibt die, die Widerstand leisten und kämpfen. Sie protestieren, zweifeln an, brechen Regeln. Und manche kaufen Klopapier und Nudeln. Ebenso eine Art von Kampf, das Gefühl haben, sich schützen zu können. Vorbereitet zu sein. Etwas aktiv getan zu haben um den Zustand vielleicht unbeschadet überleben zu können. 

Es gibt auch die, die sich von allem fern halten, um sich selber zu schützen, aus großer Angst heraus. Nirgendwo mehr hin gehen, überall Gefahr sehen und sich verkriechen. Diejenigen, die sozusagen flüchten.

Und dann gibt es die, die erstarren. Vielleicht erscheinen sie auf den ersten Blick wie die, die fliehen. Aber der Unterschied ist, dass sie keine Entscheidungen mehr treffen können, nicht mehr handlungsfähig sind. Dass sie einfach nur noch existieren und keine Kontrolle mehr über sich und ihr Denken haben. Ein furchtbarer Zustand und kaum auszuhalten. Vor allem im Freeze besteht die große Möglichkeit, psychisch nicht unbeschadet aus der Nummer heraus zu kommen, weil man eben nicht mehr handlungsfähig ist und in diesem Moment neben Angst noch nicht mals mehr Selbstwirksamkeit erlebt (wie es bei Flucht oder Kampf schon noch die Erfahrung ist). Und in diesem Moment wirkt das ganze dann wie ein reguläres Trauma, über einen sehr langen Zeitraum.

Denn in dem Moment absoluter Bedrohung, wie während eines Überfalls oder einer Vergewaltigung, greifen die selben Mechanismen. Und wenn Flucht und Kampf nicht möglich sind, dann entsteht ein Freezemoment, der langfristige Folgen mit sich bringt. Dann lieber Nudeln und Klopapier kaufen. Denn das bedeutet, handlungsfähig zu sein.

Letztendlich war der oben beschriebene Teil aus Sicht der Erwachsenen, wie Corona auf einen gesunden Erwachsenen wirkt. Und wir haben noch nicht darüber gesprochen, wie es Menschen geht die vorab schon eine psychischen Belastungen hatten, die erkrankt sind und es durch die Krise mit multiplen Belastungen schaffen müssen. Menschen, die mit finanziellem Minimum auskommen müssen. Wir reden schon jetzt von einer unglaublichen Belastung für einen gesunden und gut funktionierenden Erwachsenen. Für Kinder und belastete Menschen bedeutet die ausbleibende Erfüllung der Grundbedürfnisse noch eine viel größere Belastung.

Aber was bedeutet Corona für unsere Kinder? Unsere Kinder sind von uns Erwachsenen abhängig, je jünger desto mehr orientieren sie sich an uns. Gucken auf unser Verhalten und schwingen auf unserer Stimmungen mit. Übernehmen unsere Strategien und lösen Konflikte wie wir es ihnen vormachen. Und was passiert, wenn die Erwachsenen jetzt irritiert sind? Angst haben. Verunsichert sind. Flüstern und ständig Nachrichten gucken. Letztendlich sind Kinder noch viel mehr irritiert. Weil sie zum einen nicht verstehen, warum sich alles verändert und was los ist und zum anderen die Unsicherheit und Angst der Erwachsenen spüren, die keiner vor den sensiblen Kindern verbergen kann. Und ich befürchte Kinder können noch weniger mit dem Begriff Pandemie anfangen als wir, wissen nicht was Ansteckungsrisiko bedeutet und denken in ihrem naiven Denken Gott-sei-Dank nicht daran, dass Covid-19 tödlich sein könnte.

Aber für sie gibt es auch keinen gewohnten Alltag mehr, sie dürfen sich nicht mehr frei bewegen, nicht mehr auf den Spielplatz. Nicht mehr mit den anderen Kindern spielen, nicht mehr in den Kindergarten, in die Schule, nicht mehr treffen, nicht mehr zum Hobby. Kinder haben zudem noch ein völlig anderes Zeitempfinden. Für Kinder im Alter von 4 fühlt sich eine Woche wie für uns 3 Monate an. Wir haben also nur einer geringe Vorstellung davon, wie lang sich der Shutdown für die Kleinen angefühlt haben muss. Und dann waren sie zu Hause mit ihren Eltern. Manche Eltern sind richtig aufgeblüht und haben die Chance genutzt, viel Zeit mit den Sprösslingen zu verbringen. Haben die Kinder aufgefangen. Erklärt, die Welt gezeigt und ihnen Strategien beigebracht, die Krise zu bewältigen. Ihnen fiel es 90% der Zeit leicht, die Kinder zu beschäftigen, Ruhe einkehren zu lassen und die kleine Familie das Zentrum des Lebens werden zu lassen. Aber es gibt eben auch die Eltern, die das nicht so gut schaffen. Die gar nicht die Nerven haben, sich so lange mit ihren eigenen Kindern zu beschäftigen. Vielleicht vor lauter eigener Angst, vielleicht, weil nicht genau klar war, was Kinder kriegen und sich kümmern eigentlich genau bedeutet, weil sie es vielleicht nie gelernt haben und bisher nicht mussten. Und was genau bedeuten genervte Eltern in diesen Zeiten für hilflose Kinder? Wir merken, es entsteht unglaubliches Potential dafür, dass gerade einiges schief gehen kann. Denn die Folgen, wenn den Kindern keiner die Angst nimmt, werden erst später zu sehen sein und werden keine guten Entwicklungen mit sich bringen.

Zudem kommt für die Kinder das Wegfallen der Schule. Zwar meckern sie meist, aber es ist ihr Grund um aufzustehen. Eine Beschäftigung mit sinnvollem Inhalt. Ihre Aufgabe. Selbstwirksamkeit und Erfolgserlebnisse von 8 bis 1 Uhr  mindestens. Bestätigung und Wertschätzung für Arbeit und Einsatz. Treffen mit Freunden, Austausch, Spaß. Fällt alles weg. Was bleibt: zu Hause. Handy, PC, Playstation, Fernseher.

Nicht wenige Jugendliche, vor allem die, die einen tatsächlichen Sinn im Lernen sehen, entwicklen aktuell depressive Tendenzen und fangen an, an sich zu zweifeln. Zu grübeln und zu stagnieren. Weil es nicht genügend Fortschritt und Rückmeldung gibt, nicht genug Bewertung, das was sie sonst angetrieben hat. Worüber sie sich definiert haben. Was der Grund für Motivation und Wachsen war. Eingeschlafen. Vor allem im Rahmen der Pubertät ist die aktuelle Situation ein hohes Risiko für die Entwicklung von psychischen Störungen. Und die Therapeuten sind schon überlastet mit dem, was vorher da war.

Kommen wir noch zu den Patienten, die schon einmal ein Trauma erlebt haben. Die sowieso schon instabil sind. Die sowieso schon jeden Tag um ihr Überleben gekämpft haben. Das, worauf sie zurück gegriffen haben, was nach einem Trauma benötigt wird, ist Orientierung und Kontrolle. Weil wir absolute Kontrolle verloren haben, benötigen wir genau die, um wieder Sicherheit zu erlangen und uns orientieren zu können. Sie ahnen es, denn ich habe es schon gesagt. Fällt weg, in Zeiten von Corona. Und das bedeutet, dass alle Menschen, die sowieso schon traumatisiert sind, aktuell in einem noch viel fragilerem Zustand sind, weil ihr Mechanismus, der sie vor weiterem Leiden schützt, nicht mehr existent ist. Weil der weg fällt und das bedeutet erneute Unsicherheit. Wie sich das auf das Befinden auswirkt ist unterschiedlich. In der Regel greifen Menschen darauf zurück, was schon einmal geholfen hat. Wenn ich das jetzt auf früh- und komplex traumatisierte Kinder beziehe, würde das bedeuten, dass sie in alte Verhaltensmuster zurückfallen, die mal ihre Überlebensstrategien gewesen sind. Verhalten, an dem Pflegeeltern vielleicht jahrelang gearbeitet haben, um neue Strategien anzulernen. Generell werden traumatisierte Menschen in Not das tun, was ihnen notwendig erscheint um zu überleben und das muss in erste Linie nicht das sinnvollste sein. Es muss sich sicher anfühlen. Deshalb reagieren manche Menschen gerade mit wirklich auf den ersten Blick „schrägen“ Verhaltensweisen. Aber jeder hat andere Bedürfnisse in der Krise, managt die Situation auf seine Art und Weise. Und eigentlich ist das noch nicht mal zu kritisieren, anzuzweifeln oder in Frage zu stellen. Es geht ums psychische Überleben.

Meiner Meinung nach sollte gar nicht geurteilt werden oder kritisiert werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir alle unser Bestes geben und alle nur einen Weg finden wollen, es auszuhalten und zu meistern. Wir sollten Verständnis haben und dankbar sein, das wir nicht alle gleich sind, denn ansonsten hätte es schon bei den Nudeln und dem Klopapier ein noch größeres Problem gegeben.

Der erste Antreiber in dieser zeit ist Angst. Angst vor Krankheit, Angst vor Ungewissheit und Angst vor sich selber. Wir lassen also jeden sein wie er ist und konzentrieren uns auf uns. 

Das Resultat des Ganzen ist, dass die aktuelle Situation uns alle in einen extrem fragilen Zustand befördert und da nicht alle ein gleich gutes Gespür für sich selber haben, werden manche folgen erst zu sehen sein, wenn es schon zu spät ist. Denn Glaubenssätze und dysfunktionale Überzeugungen entstehen in Stresssituationen. Jetzt gerade ist die Geburtsstunde vieler Überzeugungen, die uns in Zukunft im Weg stehen werden. Die Zeiten sind gefährlich und anstrengend für die Psyche, weshalb der beste Tipp wie immer ist, bei sich zu sein und auf die eigene Intuition zu hören. Wir alle sind Experten für uns selber und wissen, was uns gut tut. Und das muss nicht das sein, was unser Nachbar oder unserem Kind oder unserer Mutter gut tut. Jeder darf das tun, was für ihn sinnvoll ist. Und dann hoffen wir einfach, dass wir Schritt für Schritt diese Krise bewältigen und irgendwann dahin zurück kommen, wie es mal war. 

Und um auch zumindest noch einen positiven Satz am Ende zu erwähnen, bei all dem Schrecken: wich finde wir sind schon jetzt über uns hinaus gewachsen. Viele Menschen haben ihren Radius und ihre Fähigkeiten erweitert, haben sich getraut Dinge zu tun, die sie vorher niemals gemacht hätten. Für viele Therapeuten ist das beispielsweise die Videosprechstunde. Viele Menschen haben sich digitalisiert um flexibler zu sein, Menschen sind wieder kreativ geworden, solidarisch, haben Unterstützung organisiert und Hilfe angeboten. Letztendlich hat jede Situation immer 2 Seiten. Und auch Corona hat was Gutes. Trotzdem ist es an der Zeit zu gehen, Covid-19. Danke für Nichts.

 

erschienen im PATEN, Ausgabe 2/2020

DIE MEINUNG DER ANDEREN

WARUM (PFLEGE- UND ADOPTIV-)ELTERN AN DIE EXPERTISE FÜR IHRE KINDER GLAUBEN SOLLTEN
von Eva Schoofs

Wir alle kennen die berühmt-berüchtigte Situation mit den liebenswürdigen Kleinen an der Kasse. Ganz in der Nähe der Überraschungseier oder sonstigen leckeren Kleinigkeiten. Ein Blick, ein Griff und das Theater ist vorprogrammiert. Hat man einmal zu einer Süßigkeit an der Kasse zugestimmt, haben die Superhirne das für immer abgespeichert und die Sprösslinge legen es darauf an, unsere Frustrationstoleranz bis aufs letzte auszuschöpfen, um das begnadete Ei zu bekommen und es endet, auch wenn man es mit allen Mitteln versucht zu vermeiden, in einem Geschrei und Gebrülle, wenn man die Süßigkeit diesmal nicht kaufen möchte. 

Und schon passiert es. Alle Augen in Kassennähe richten sich auf Kind und einen selbst, die Kassiererin hebt die Augenbrauen, die Leute vor einem an der Kasse drehen sich um und starren das tobende Kind an, die ersten mitleidigen Blicke, Empörung und Fassungslosigkeit in den Augen der Umstehenden. Und wir als Eltern… wir erstarren. Bloss nichts falsch machen und möglichst schnell die peinliche Situation beheben, sodass der Betrieb normal weiter gehen kann und sich bitte keiner eine Meinung über unsere erzieherischen Kompetenzen macht.

Denn zwischenzeitlich ist Kindererziehung zum Wettbewerb geworden und beim Kaffeeklatsch wird nicht nur ausgetauscht, was den Kindern am besten bekommt und was praktische Tipps sind. Es wird vor allem damit geprahlt, welches Kind schon durchschläft, dass der andere schon am ersten Tag des Kindergarten seinen Namen schreiben kann und noch ein anderer praktisch schon in der ersten Klasse das Abitur sicher hat. Damit stressen wir uns eigentlich nur selbst. Und vertreten gleichzeitig die Meinung, dass jedes Kind individuell sein soll… Was denn nun??

Aber zurück zur Kasse, den Überraschungseiern und dem schreienden Kind.

Und obwohl wir ähnlichen Situationen zu Hause täglich ausgesetzt sind und souveräne Ansätze erarbeitet haben, wie wir ein „Nein“ verkaufen und mit Frust umgehen, die mit ignorieren, ablenken oder spiegeln zu tun haben, werden wir in dem Moment, in dem wir unter Beobachtung Fremder geraten,  fast handlungsunfähig, weil wir spüren, dass wir auf einmal der Bewertung ausgeliefert sind. „Na, wie wird sie das jetzt machen?“ – „Was für ein Schreihals, dem würde ich aber mal die Meinung sagen!“ und Sätze wie „Da scheint es mit der Erziehung aber nicht so weit her zu sein!“ scheinen durch die Luft zu flirren und alle erstarren in der Erwartung, wie die arme Mutter die unangebrachte Situation mit dem protestierenden Kind jetzt ohne Skandal lösen wird. Und alle sind gespannt, ob sie der Herausforderung gewachsen ist.

Diese Situationen gibt es nicht nur an der Supermarktkasse, auch Restaurants, Boutiquen oder andere Plätze bieten eine wunderbare Kulisse für ein herrlich-dramatisches Kinder-Szenario und bestimmt erinnern sich einige Leser jetzt gerade an einige ihrer Ereignisse. Ich wünschte, Sie könnten mir jetzt davon erzählen… Erinnern Sie sich, wie unangenehm es war? Und an die Experten, die dann von außen mit schlauen Sprüchen beobachten… Sehr unangenehm? 

Aber warum lassen wir uns irritieren von Menschen, die gar keine Ahnung haben wer wir sind, wer unsere Kinder sind und was unsere Kinder brauchen. Die nicht im geringsten Wissen, mit welcher E Wicklung wir gerade zu tun haben, was unser Tag schon an Herausforderungen mit sich gebracht hat und was wir schon probiert haben und als erfolglos oder unpassend deklariert haben. Denn auch, wenn die generellen Grundbedürfnisse um zu wachsen und gesund zu bleiben für uns alle ähnlich sind, brauchen unterschiedliche Kinder in unterschiedlichen Lebenslagen unterschiedliche Ansätze, wie man mit ihnen umgeht. Und alle Eltern dürfen darüber selber entscheiden und jeder darf es anders machen.

Zu allererst haben Eltern die Möglichkeit, selber einen Erziehungsstil zu wählen und dabei gibt es sicherlich Stile, von denen man sagt, dass sie es Kindern leichter machen, sich in die Gesellschaft zu integrieren und Kinder von bestimmten Erziehungsstilen auch mehr profitieren als von anderen, aber prinzipiell darf man sich als Eltern frei entscheiden, auf welche Art und Weise man mit dem Balg reden möchte, denn solange es dem Kind nicht schadet, ist erst einmal alles erlaubt.

Antiautoritärer, autoritärer, demokratischer, egalitärer oder Laissez-faire Erziehungsstil sind nur einige Möglichkeiten, um ein paar Namen zu nennen. Wichtig dabei ist, dass es prinzipiell um Fürsorge geht, dass eine gewisse Konsistenz herrscht, also ein stabiles und gleichbleibendes Muster, das für das Kind berechenbar ist, sodass das Kind die Möglichkeit hat, Entscheidungen zu treffen und eine Konsequenz darauf bekommt, je nachdem ob es eine gute oder eher schlechte Entscheidung war. Und sicherlich ist es in manchen Lebenslagen und Entwicklungsphasen des Kindes notwenig, den Erziehungsstil anzupassen und vorübergehend den Bedürfnissen entsprechend zu verändern, aber prinzipiell sollte man sich sicher sein und sich einen Plan machen, welche grobe Linie man fahren möchte.

Aber auch da haben schon einige Menschen ein Problem mit. Wenn andere sich zu neuen Denkansätzen entscheiden, weil sie sich informiert haben und sich klar und deutlich überlegt haben, was sie für ihr Kind möchten. Meine Schwester beispielsweise hat sich viel mit der Erziehung im mediterranen Raum beschäftigt und mochte den Ansatz, dass Kinder lange bei den Eltern im Bett schlafen, weil sie die Meinung vertritt, dass frühes alleine schlafen oft Verunsicherung mit sich bringt und sie ihren Kindern eine gute Bindung vermitteln möchte, sodass sie entschieden hat, dass sie ihre Kinder selber entscheiden lassen möchte, wann sie wo schlafen. Andere Eltern und unsere eigene Mutter können damit nicht umgehen, sehen es als Entwicklungsverzögerung an, dass die Kinder noch nicht alleine im eigenen Bett durchschlafen (alle sind unter 5 Jahren) und nachts noch zu den Eltern gekrochen kommen. Weil sie das brauchen. Weil sie noch so klein sind. Und warum denn nicht? Und was gibt es schöneres, als bei Mama und Papa im Bett zu schlafen. 

Und wenn die Eltern bereit sind, nachts auf eigene Privatsphäre zu verzichten, dann ist doch alles okay. Muss ja nicht jeder genau so machen, aber die Entscheidung akzeptieren wäre schön. Und diese Entscheidung hat keinesfalls etwas mit Entwicklungsverzögerungen zu tun.

Viele verstehen nicht, dass es sich um eine bewusste Entscheidung für das Kind handelt, weil viele im Wettbewerbsmodus sind: welches Kind am schnellsten möglichst selbstständig ist. Möglichst angepasst. Möglichst weit in Entwicklung. Warum? Seit wann ist Kinderverhalten ein Vorzeigesport geworden, mit dem man Preise ernten kann?? Und was soll das Kind davon haben?

Seit wann geht es um Konkurrenz, anstelle um die Bedürfnisse unserer Kinder? Seit wann ist angepasstes Verhalten und Durchschlafen im eigenen Bett ein Synonym für „glückliches Kind“. Ich dachte immer, dafür wäre Lachen wichtig, ein gutes Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, mit andern Menschengut zurecht zu kommen. Sich schnell entscheiden zu können, sich geliebt zu fühlen und sich selber gerne zu mögen…

Und mit den Blicken an der Supermarktkasse ist es meist dann ja auch noch nicht getan. Wenn Leute um einen herum sind, die einen kennen, oder auch nicht, dann fangen die meist auch noch an zu reden. Nur leider meist nicht mit einem, sondern lediglich über einen. Dann geht es um Beurteilung und Kompetenz, um richtig und falsch, um gute oder schlechte Eltern. Nur, weil man etwas ANDERS macht. Seit wann ist anders falsch??

Das erzeugt maximale Verunsicherung und ist völlig unangebracht. Wie sollen wir denn selbstbewusst unsere Kinder erziehen, wenn unser Umfeld uns ständig beurteilt und denkt, es besser zu wissen. Dazu kommt ja nun auch tatsächlich die Komponente, dass wir in Erziehung immer dann schnelle Entscheidungen treffen müssen, wenn es emotional wird. Solange alles ruhig ist und mein Kind und ich im Einklang sind, dann fällt es mir nicht schwer, das in meinen Augen „richtige“ bzw. sinnvollste zu tun, dann fühle ich das sehr deutlich. Etwas schwieriger wird es, wenn es emotional wird, einer von uns wütend ist und sich eine Auseinandersetzung anbahnt. Dann kurzfristig sinnvolle Strategien anzuwenden bedarf meist einer Planung vorab, in der ich mir überlege, wie ich mich in welchen Situationen meinem Kind gegenüber verhalten möchte. Aber oh Wunder, es kommen auch Situationen, die hatte ich noch nicht bedacht, die hatte ich nicht geplant und dann muss ich improvisieren. Muss in Zehntelsekunden entscheiden, was jetzt sinnvoll ist, was die geringsten Konsequenzen in den nächsten Stunden mit sich bringt, manchmal auch, was die geringste Zeit in Anspruch nimmt. Und welche Strategie am besten zu meinem Kind und mir passt. Diesen ungeplanten Situationen begegnen wir übrigens leider zu 50%. 

Aber das Wichtigste: diese ganzen Informationen über mein Kind habe nur ich, die mich zum Experten für mich und mein Kind in dieser Situation machen. Kein anderer hat diese Informationen und muss demnach auch nicht verstehen, warum ich auf eine bestimmte Art handle oder entscheide. Es ist überraschend, dass wir alle individuelle Kinder möchten, aber viele Eltern davon überzeugt sind, dass alle es gleich machen sollten. Und Eltern, die sich überlegt haben, anders mit Konflikten umzugehen, gleich schief angesehen werden. Dabei sollten sie stattdessen Lob und Respekt bekommen, weil sie sich einen Plan gemacht haben und sich Gedanken dazu gemacht haben, wie sie ihr Kind erziehen möchten. Weil sie innovativ denken und Neues ausprobieren. Weil sie den Kindern Vielfalt bieten und sich engagieren.

Denn der Teil, der denkt, alle Eltern müssten die selben Strategien anwenden, handelt meist nach dem, was sie kennen. Wie sie es selbst erlebt haben. Oft ohne in Frage gestellt zu haben, ob die Methode zum Kind passt, oder man sie abwandeln könnte, um sie besser fürs Kind zu machen. Ohne sich zu erinnern, ob sie einem selber gut getan hat, ob man daran gewachsen ist oder eher darunter gelitten hat.

Ich kann allen Eltern nur empfehlen, sich zu überlegen, wie ihre Haltung als Eltern sein soll. Ob sie dem Kind prinzipiell wertschätzend entgegen treten möchten, weil es ein gutes Selbstbewusstsein bekommen soll oder viel Raum lassen, weil es schnell eigene Erfahrungen sammeln soll und lernen soll, eigene Entscheidungen zu treffen. Man darf tatsächlich mal die eigenen Erziehungsmethoden in Frage stellen und überprüfen, was sie bisher gebracht haben und ob es das war, was man erreichen wollte. Und man darf dann in sich selbst vertrauen, dass man der Experte für seine eigenes Kind ist und es so machen darf, wie man es für richtig hält, wie das eigene Kind am meisten profitiert und so lange es dem Wohl des Kindes dient, selbstverständlich.

Noch viel interessanter wird es bei Kindern, die eine besondere Herausforderung mit sich bringen, weil sie frühkindlich traumatisiert wurden, bindungsgestört sind und dann nicht „normal“ auf Pädagogik reagieren können. Weil sie andere Erfahrungen gemacht haben und Vertrauen und Verlässlichkeit niemals erlebt wurden. Kinder, die man mit üblichen Methoden weder begrenzen noch bestärken kann und die einfach spezieller Behandlung bedürfen, um sich gut entwicklen zu können.

Ein Beispiel: ein 4-jähriges Pflegemädchen, schwer misshandelt und verwahrlost in der Vergangenheit, aufgewachsen in einem dubiosen Ursprungssystem, in dem sexualisiertes Verhalten offensichtlich eine Strategie war, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Also flirtet sie, was das Zeug hält, bietet sich an, berührt im Intimbereich und wird ganz schnell ganz aufdringlich. Kann kuscheln auf „normale“ Art weder annehmen noch umsetzen, wird sofort sexuell. Ganz unangenehm und völlig unangebracht, aber sie hat es nicht anders gelernt. Es war ihre Überlebensstrategie. Furchtbar, wenn man bedenkt, wie es dazu gekommen sein muss. Wie soll sie wissen, dass sie Kontakt auf andere Art und Weise aufbauen sollte und diese Strategie Probleme mit sich bringen wird. Sie ist darauf angewiesen, dass Erwachsene sie gut begleiten und begrenzen, ihr mit Geduld zeigen, wie sie es anders lernen kann.

Die Pflegeeltern des Mädchens hatten zu Beginn große Schwierigkeiten, mit dem Verhalten des Mädchens umzugehen, waren besorgt, etwas falsch zu machen und kamen selber immer wieder in Bedrängnis, da das Mädchen immer wieder sexualisierten Kontakt vor allem zum Pflegevater suchte. Nach ausführlicher Beratung konnten sie eine angemessene Haltung einnehmen und informierten das Umfeld, dass es für das Kind das Wichtigste sei, dass die Erwachsenen für Distanz sorgen und einen angemessenen Umgang zeigen und vor allem weitere Bekannte auf Schmusen etc. mit dem Mädchen sowieso verzichten, sodass das Mädchen lernen könne, wie eine adäquate Kontaktaufnahme funktioniert und lerne, dass es auf andere Art und Weise Aufmerksamkeit bekommen kann. Die Pflegeeltern merkten schnell, dass sich das Mädchen zu Hause mit weniger Körperkontakt und etwas distanzierterem Verhalten deutlich entspannte und lernfähiger war, sich viel besser in die Familie integrieren konnte, weil es seiner Rolle, sexuell gefallen zu müssen, nicht mehr nachkommen musste. Die Pflegeeltern haben so für einen sicheren Rahmen gesorgt. Es gab nach wie vor liebevollen Körperkontakt, aber bedacht und gut dosiert, der das Mädchen nicht irritierte.

Da Kinder in dem Alter zu jung sind um zu verstehen, worum es geht, ist es wichtig, dass in diesem Falle die Erwachsenen Verantwortung übernehmen und das Umfeld für das Kind so ausrichten, dass es lernen und sich gesund entwicklen kann, dass es eventuell nachholen kann, was es durch die frühe Traumatiserung verpasst hat. Dem Kind das Verhalten einfach nur zu verbieten würde nichts bringen, da das Kind denkt, dass sein Verhalten normal ist und gar nicht weiß, wie es das anders machen soll. Erwachsene müssen ihm das zeigen, wertschätzend vormachen, Hilfestellung geben und unendliche Geduld haben. Denn das, was das Mädchen bisher erlebt und gelebt hat, war ihre Realität. Vor allen in diesem jungen Alter stellen Kinder diese Strategien noch nicht in Frage, sondern denken, ihr Leben sei normal und alle anderen würden es genauso machen. 

Wenn wir intuitiv mit links schreiben gelernt haben, dann denken wir zunächst, dass alle mit links schreiben und das der Regelfall ist. Dann kommt jemand und sagt, dass eigentlich alle mit rechts schreiben und mit links schreiben gar sei nicht gut sei und wir ab jetzt mit rechts schreiben sollen. Und zunächst werden wir bei jedem Mal Schreiben erst wieder mit links beginnen um es dann mit rechts völlig neu zu lernen. Man kann sich vorstellen, wie viel Energie allein das kosten würde. Und wir würden unsägliche Male mit links den Stift greifen, bevor wie es nach langer Zeit auf rechts automatisiert hätten. Und selbst dann kann es sein, wenn wir in Stress geraten, dass wir doch wieder mit links schreiben. Wir bleiben gern bei unserem ursprünglich erlernten Verhalten, und das nicht nur beim Schreiben. Auch bezüglich Umgang mit Streit, mit Stress, mit Angst, zum Erlangen von Aufmerksamkeit u.ä. bleiben wir gerne bei unseren bewährten Strategien. Aber zurück zu unserem Mädchen…

Das Umfeld, unter anderem auch der Kindergarten, wurden über die Geschichte und das Verhalten des Mädchens informiert und es wurden von den Pflegeeltern klare Regeln aufgestellt, die für das Kind wichtig sind. Keine zu liebevollen Schmusereien, keine rhythmischen Bewegungen auf dem Schoß, etwas Distanz in den Kontakt bringen und keine engen und intimen Umarmungen mehr. Trotzdem ein liebevoller und wertschätzender Umgang. Um auch im Kindergarten den Fokus vom sexualisierten Verhalten auf kindliches Verhalten zu switchen. Klare Vorgaben zur Orientierung von den Erwachsenen.

Einige Erzieherinnen des Kindergartens konnte sich nur schwer mit dem Anliegen arrangieren und fanden, dass die Familie dem Kind die Liebe verweigern würde, die es brauchen würde. Hatten wenig  Verständnis für die Geschichte des Mädchens und die Verhaltensauffälligkeiten.

Was im Nachgang passierte, war unglaublich, denn das Jugendamt rief aufgrund einer §8a-Meldung (drohende Kindeswohlgefährdung) seitens des Kindergartens bei mir an und fragte, ob ich wisse, was in der Familie los sei. Den Pflegeeltern würde vorgeworfen werden, sie seien so kalt gegenüber dem Kind, das könne nicht gut für die Entwicklung sein. 

Ich habe der Mitarbeiterin vom Jugendamt erklärt, warum die Pflegeeltern sich auf diese Art verhalten und was die Problematik des kleinen Mädchens ist. Nachvollziehbar und die drohende Kindeswohlgefährdung sofort vom Tisch, aber Augenbrauenrunzeln über die Mitarbeiterin des Kindergartens, die sich trotz Aufklärung und Begleitung und der Möglichkeit, Fragen zu stellen, so unprofessionell verhalten hat. Vermutlich aus der Sorge, dass Kind könnte zu wenig emotionale Zuwendung bekommen und sich nicht vernünftig entwickeln. Dass die Maßnahme genau dafür installiert wurde, damit das Mädchen sich entwicklen kann, darauf kam weder die Erzieherin noch die Mitarbeiterin des Jugendamtes. Eine riesen Herausforderung, vor allem für die Pflegefamilie, die bisher tolle Arbeit geleistet hat und sich wirklich sehr bemüht, die Welt aus den Augen des kleinen Pflegemädchens zu sehen…

Aber als das Jugendamt wegen der Kindeswohlgefährdung anrief herrschte maximale Verunsicherung. Ob ihre Arbeit sinnvoll und richtig ist und sich weiter lohnt, wenn andere pädagogische Kräfte sie anzweifeln. Ob es Sinn macht, weiter so viele Kräfte zu mobilisieren, so viel auszuhalten, so viel Geduld zu haben, wenn die Erfolge und die Maßnahmen in Frage gestellt werden. 

An dieser Stelle war es wichtig, die Familie in dem zu stützen, worin sie gelernt hatten gut zu sein: nämlich im Verstehen des kleinen Mädchens. Und dazu ist zu sagen, dass niemand anderes auf der Welt zu dieser Zeit das Mädchen besser kannte, als diese Pflegeeltern. Und all die pädagogischen Maßnahmen, die die Familie für genau das Mädchen installiert hatte, würden vermutlich auf kein anderes Kind anwendbar sein, würden im Bezug auf andere Kinder vielleicht sogar kontraindiziert wirken. Aber genau darum geht es: Profis für die eigene Geschichte des Pflege- oder Adoptivkindes zu werden und damit zu arbeiten. Nicht mit allgemeinen Richtlinien, den normalen pädagogischen Maßnahmen, die jeder kennt, denn die werden ggf. gar nicht greifen und zu nichts führen. Wenn die normale Pädagogik bei frühtraumatisierten Pflegekindern helfen würde, dann hätten wir in Deutschland keinen „Systemsprenger“-Film, der auf die Missstände hinweist. Weil leider viel zu wenig Menschen sich trauen, Experten zur werden für die Geschichte des eigenen Pflegekindes und das tun, was ihre Intuition ihnen sagt.

Das Mädchen besucht den Kindergarten jetzt nicht mehr. Es wird jetzt 1:1 betreut, bis das System einen neuen, angemessenen Kindergartenplatz gefunden hat, der die spezielle Situation händeln kann. Und wenn nicht, dann ist das nicht so schlimm. Es ist nicht absehbar, dass das Mädchen in nächster Zeit in die Schule kommen könnte, es brauch Zeit um nachzureifen. Um den Kontext in einer Gruppe von Gleichaltrigen erste einmal aushalten zu können. Aktuell würde sie sich nur durch sexuell auffälliges Verhalten profilieren wollen und somit schnell zur Außenseiterin werden, im Unterricht und an der Schule nicht tragbar sein und wieder weggeschoben werden. Das soll vermieden werden. Das Mädchen muss zunächst nicht funktionieren, sondern erst einmal lernen Kind sein zu dürfen und zu spielen und im Kontakt weniger sexualisiert zu sein. Und dann kann über Funktionieren im System nachgedacht werden. Und wenn das noch länger dauert, dann ist das so.

Und auch, wenn in Deutschland Schulpflicht herrscht, denke ich, dass wir die Situation aus den Augen des Mädchens mit ihrer Geschichte im Hintergrund sehen müssen. Und da steht es nicht an erster Stelle zu funktionieren. Da steht an erster Stelle in dieser Welt überleben zu können. Sich wieder einigermaßen sicher fühlen zu können. Vielleicht mal vertrauen fassen zu können. Nicht ständig in Alarmbereitschaft zu sein.Wir können von Kindern, die nicht normal aufgewachsen sind nicht erwarten, dass sie normal funktionieren. Es hat keinen Sinn, sie in unser reguläres System zu zwingen, weil sie es sprengen werden. Nicht, weil sie böse sind oder uns ärgern wollen, sondern aus Hilflosigkeit und Überforderung. 

Umso wichtiger ist es, dass wir Verantwortung übernehmen und uns Gedanken machen. Was für unser Kind individuell am besten passt. Und das muss niemand außenstehendes verstehen. Es ist okay es anders zu machen, wenn es dem Kind hilft. Lassen Sie die anderen gucken, reden, schimpfen und tuscheln, wenn jemand  eine andere und bessere Idee hat, sind wir dankbar für jeden Vorschlag, aber in erster Linie gehen wir davon aus, dass wir am allerbesten wissen, was für unser Kind das richtige ist. Weil wir der Experte sind.

Liebe Pflegeeltern, liebe Adoptiveltern, bitte lassen Sie sich nicht verunsichern, wenn sie sich bemühen, ihr Kind zu verstehen und Wege suchen, die passend sind, nachzureifen und sich in diese Welt zu integrieren. Halten Sie durch und bestärken Sie sich gegenseitig, dass Sie es richtig machen und gucken Sie kritisch auf die, die einfach nur erwarten, dass sich die Kinder dankbar in die Familien und das System einfügen. Denn diese Erwartung ist so utopisch wie der Gedanke, dass wir morgen alle als Millionäre aufwachen!

Und für alle die, die denken, dass das Quatsch ist: hinter jedem Verhalten steckt eine Story, die wir nicht kennen. Also Vorsicht mit Urteil und Vorurteil.

 

erschienen im PATEN, Ausgabe 01/20

VON PINGUINEN IN GIRAFFENFAMILIEN...

UND WARUM PFLEGEKINDER NICHT IMMER DANKBAR SEIN KÖNNEN
von Eva Schoofs

Pflegekinder sind in vielen Fällen ganz besondere Kinder. Kinder mit besonderen Geschichten, mit besonders vielen Erlebnissen, mit besonders vielen Traumatisierungen und leider auch oft mit besonders vielen Verhaltensauffälligkeiten. Es ist ihnen nicht zu verübeln, denn letztendlich zeigen sie nur das, was Erwachsene ihnen angetan haben und spiegeln, in welcher Not sie sich in der vorherigen Zeit befunden haben müssen. Es gibt immer einen guten Grund, warum sich Kinder auf eine bestimmte Art verhalten und in den meisten Fällen können wir davon ausgehen, dass das Verhalten ihnen einmal geholfen hat, zu überleben. Zuwendung oder Aufmerksamkeit zu bekommen, geholfen hat durchzuhalten oder ein Problem gelöst hat. Kinder sind in jungen Jahren nicht manipulativ und berechnend, sie sind von Erwachsenen abhängig und lernen von deren (un)berechenbaren Verhalten. Und leiden vor allem oft darunter.

Schlimm genug, dass es soweit kommen muss, dass sie ihre eigene Familie verlassen müssen. Denn auch wenn Kinder von Eltern schlecht behandelt werden, besteht immer eine Loyalität zu den leiblichen Eltern. In den meisten Fällen wissen die Kinder nicht, dass  sie schlecht behandelt werden, da sie es nicht anders kennen, und jeder die Gewohnheiten von zu Hause als ‚normal‘ ansieht. Es bedeutet auch, dass Kinder sich oft nicht entscheiden können, in eine Pflegefamilie zu gehen und schlichtweg gezwungen sind. Zu ihrem eigenen Wohl, aber von den Erwachsenen entschieden. Aus den Augen der Kinder bedeutet dies oftmals so etwas ähnliches wie ein Umzug auf einen anderen Kontinent. Zu Menschen, die anders leben, andere Dinge gut finden, anders miteinander reden und andere Dinge essen. Für uns Erwachsene gleicht das einem gezwungenen Umzug nach Japan. Und wenn ich mir so vorstelle, dass ich ab morgen in Japan leben müsste, dann gäbe es bestimmt tolle und aufregende Aspekte, aber es wäre nicht zu Hause und ich würde mich nicht immer wohl fühlen. Ich würde zu Hause ganz schrecklich vermissen. Und ich glaube nicht, dass ich unbedingt dankbar wäre, in Japan sein zu dürfen.

Wir vergessen oft, dass wir Kindern zu ihrem Schutz leider auch ihr bisheriges Umfeld wegnehmen und sie sich nicht dafür entschieden haben. Und sicherlich ist es in vielen Fällen notwendig, vor allem, wenn Kinder misshandelt, missbraucht und verwahrlost werden, wenn es massive häusliche Gewalt gibt oder Eltern zu krank sind, um sich zu kümmern. Aber alles, was bekannt war, was wie zuhause gerochen hat, was sich wie zuhause angehört hat, fehlt ihnen. Auch wenn es nach Urin gerochen hat und meistens nur gebrüllt wurde. Wenn es laut war, es nur Toast zu essen gab und man in Eimer im Kinderzimmer pinkeln musste. Auch dann. Kinder arrangieren sich mit Unglaublichem und stellen nicht in Frage. Und wenn etwas richtig schlecht läuft, dann geben sie sich letztendlich sogar selber die Schuld. Weil den Eltern die Schuld geben bedeuten würde, sich selber einzugestehen, dass diese eine Gefahr sind, dass sie als Kind scutzlos ausgeliefert sind und das würde ein Kind im Bezug auf den nächsten Tag und die weiteren vielen, die kommen, ausgehalten. Also sind niemals die Eltern Schuld, sondern die Kinder geben sich die Schuld. Eine unfassbare Leistung dieser Kinder. Und trotz dieser ganzen Bemühungen, ein gutes Kind zu sein und Papa und Mama zu gefallen, wird es weg genommen. Und das Kind denkt, dass es versagt hat. Dass es eine Enttäuschung ist. 

Da kommt also einiges zusammen, ein Kind in eine neue Familie, weg von allem Gewohnten mit einem Selbstwert von einem schwarzen Loch. Ich weiß, dass einige, die diesen Artikel jetzt lesen, an das eigene Pflegekind denken, denn ich schreibe über keinen Einzelfall.

Um das ganze mal bildlicher darzustellen, können wir uns vorstellen, dass das Kind bisher in einer Pinguinfamilie groß geworden ist und jetzt in eine Giraffenfamilie kommt. Wir ahnen es, es könnte Unterschiede geben, die sowohl für den Pinguin als auch für die Giraffen Probleme darstellen könnten. Giraffe und Pinguine leben völlig unterschiedlich, der Tagesablauf ist ein anderer, die Art sich fortzubewegen ist deutlich unterschiedlich, die gegenseite Kommunikation könnte problematisch werden, ganz zu schweigen von den Nahrungsoptionen. 

Letztendlich erwartet das System jedoch, und leider auch allzu oft die GIraffenfamilie, dass der Pinguin sich einlebt, allmählich die Strukturen der Giraffen übernimmt und sich letztendlich wohl fühlt. Dass er sich den Giraffen anpasst. Und manchmal wundern sich Giraffen an meinem Schreibtisch, warum der Pinguin rebelliert. Es gibt sogar Giraffen, die noch gar nicht bemerkt haben, dass der Neue unter ihnen ein Pinguin ist. Aber das ist nicht die Regel. Die meisten Giraffenfamilien haben ein gutes Gespür und spüren, dass etwas fehlt und Hilfe notwendig ist.

Aber auch mit ganz viel Phantasie kann aus einem Pinguin keine Giraffe werden. Niemals. Dieser Gedanke ist utopisch. Und es wird deutlich, warum es trotz Bemühungen seitens der Giraffen des öfteren zu Komplikationen kommen könnte. 

Die Strukturen in der neuen Familie sind für den Pinguin oft nicht nachvollziehbar. Die Rituale nicht bekannt und schaffen somit nicht unbedingt Sicherheit, wie es für die Giraffen der Fall ist. Und nur, weil die Giraffen bestimmte Rituale schön finden, wie abends im Bett kuscheln oder etwas vorlesen, und sie den Giraffen Wärme und Geborgenheit geben, muss das nicht bedeuten, dass auch der Pinguin diese Wärme und Geborgenheit spürt. Vielleicht hat der Pinguin nachts nämlich sexuelle Übergriffe erlebt und empfindet das zu-Bett-gehen und den einhergehenden gut gemeinten Körperkontakt als Bedrohung. Vielleicht möchte er sehr viele Autos in seinem Bett haben, damit er sich im Schlaf besser spürt und sich Autos bewegen, sodass er wach wird, wenn sich jemand dem Bett nähert. Dem Pinguin die Autos aus dem Bett weg zu nehmen, nur damit der Pinguin schläft wie die Giraffen, nämlich weich und warm im kuschligen Bett, könnte an dieser Stelle fatale Folgen mit sich bringen, die Schwierigkeiten sowohl für die Giraffen als auch den Pinguin bedeuten.

Mir ist völlig klar, dass man selber von dem, was einem gut tut, überzeugt ist und deshalb oft davon ausgeht, dass es anderen genauso gut tut. Dem ist nur leider oft nicht so. Wir alle haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht und bewerten Dinge völlig anders. Wir alle haben unsere eigenen Lösungen, die für uns funktionieren oder eben nicht. Die Giraffen sind in einer überaus schwierigen Situation, weil sie oft viel zu wenig über den Pinguin und das Leben des Pinguins wissen und deshalb sein Verhalten oft nicht nachvollziehbar ist. Weil er sich in ihren Augen dann ‚nicht normal‘ verhält. Dabei ist der Pinguin nur der, der er schon immer war. Was anderes kennt er ja nicht. Wie soll er wissen, was die Giraffen von ihm erwarten, wenn es ihm keiner ruhig und sachlich erklärt. Und selbst dann kann es schlimmstenfalls passieren, dass der Pinguin keine Giraffe werden möchte. Weil er seinen schwarz-weißen Frack lieber mag und die langen Hälse ihm Angst machen. Egal wie liebevoll die Augen mit den langen Wimpern gucken. Der Pinguin wird picken, wenn es ihm zu eng wird.

Und manchmal brauchen Pinguine weiterhin einige Anteil von ihrem alten zuhause. Um sich nicht ganz so einsam und verlassen unter den Giraffen zu fühlen. Denn auch wenn die Giraffen nett sind, bleiben sie für den Pinguin ein bisschen fremd, zumal er nett auch nicht gewohnt ist. Und da er Vertrauen und auf-den-anderen-verlassen nie kennengelernt hat, weiß er auch nicht, was die Worte bedeuten. Nur das anschließende ‚ich bin enttäuscht von dir!‘ ist ihm bekannt. Wenn es darum geht, sich wertlos zu fühlen, ist der Pinguin nämlich Experte. Mit der Nettigkeit der Giraffen weiß der Pinguin nichts anzufangen, und so tut er das, was er immer getan hat. Überleben. Und es sich ein kleines bisschen heimelig machen. So wie früher.

Das bedeutet dann in manchen Fällen, dass der Pinguin essen klaut und bei sich hortet, für schlechte Zeiten, denn auch wenn es bei den Giraffen regelmäßig etwas zu essen gibt, wird der Pinguin schon nervös, wenn er ein kleines bisschen Magenknurren bekommt. Es gab nämlich mal eine Zeit, in der bekam der noch sehr kleine Pinguin lange Zeit nichts zu essen und dachte sogar, dass er vor Hunger sterben könnte. Diese Todesangst will er nie wieder spüren, deshalb klaut er das Essen und bunkert es in seinem Zimmer. Vielleicht auch einfach nur um es zu haben. Denn früher war niemand gekommen und hatte ihn zum essen gerufen. Da war es still geblieben, wenn er vor Hunger geweint hatte und irgendwann hatte er aufgehört zu weinen. Aber das passiert dem Pinguin kein zweites Mal. Diesmal wird er vorbereitet sein. Und viellicht klaut er neben dem Essen auch noch einpaar andere wertvolle schätze, um sich durchschlagen zu können, wenn es nötig ist. Was ‚mein‘ und ‚dein‘ ist, haben die Pinguineltern ihm nie beigebracht. Jeder hat genommen, was er kriegen konnte.

Und manchmal, wenn der Pinguin mit den Giraffen auf dem Campingplatz ist und alleine mit dem Rad unterwegs ist und ein Magenknurren spürt, dann erinnert er sich daran, dass er in den Mülleimern schnell nach etwas zu Essen gucken kann, damit das blöde Gefühl aufhört und er nicht an die schlimme Zeit von früher erinnert werden muss. Er hat keine Ahnung, warum die Giraffen das so schlimm finden und mit ihm schimpfen. Eigentlich war er stolz auf sich, dass er sein Problem selbst gelöst hatte. Dass er wie immer überlebt hatte.

Und zu Hause bei den Giraffen riecht es so völlig anders als bei den Pinguinen zu Hause. Deshalb pinkelt der Pinguin regelmäßig in die Blume, dann riecht es ein kleines bisschen wie früher, als er auf den Eimer im Zimmer gehen musste, um sein Geschäft zu erledigen, weil er tagelang in seinem Zimmer eingeschlossen war. Als die Giraffen ihm schimpfend die Blume abgenommen haben, pinkelt er unters Bett. Der Teppich riecht fast noch intensiver als die Blume, aber die Giraffen flippen aus. Kann der Pinguin nicht verstehen.

So schwer, wie für den Pinguin, ist es auch für die Giraffen, den kleinen Meerbewohner zu verstehen. Und an dieser Stelle ist ganz oft eine Beratung sinnvoll, die hilft, den guten Grund des Pinguins zu erkennen. Die hilft, mit den Giraffen einen Plan zu machen, wie sich der Pinguin wohl fühlen könnte. Und manchmal helfen schlichtweg keine Liebe und Verständnis, sondern ein Arbeitsbündnis, in dem es um klare Absprachen geht, wenig Erwartungen und Emotionen wie Vertrauen und Enttäuschung, weil Giraffen und Pinguine eine andere Sprache sprechen. Und darum, dass die Giraffen dem Pinguin die Schuld nehmen und Verantwortung übernehmen. Für Probleme, die sie selber nicht verursacht haben. Und weil der Pinguin die neue Sprache aufgrund von Entwicklungsdefiziten nicht lernen kann. Dann ist er darauf angewiesen, dass die Giraffen ein bisschen Pinguin lernen. Es gibt immer eine Chance, alles ist möglich.

Und vielleicht wird der Pinguin niemals die Giraffen verstehen können, wird sich immer nach den Pinguineltern sehnen und alles tun, um wieder zurück zu kommen. Oder vielleicht wird der sich nach und nach anpassen können und die Fähigkeit besitzen, die Giraffen zu beobachten und von ihnen zu lernen, sie zu imitieren, um dann selber irgendwann wie eine Giraffe zu leben. Oder er wird sich still und heimlich einsam fühlen und immer ein bisschen alleine. Wird sich ritzen, wenn er älter wird, Drogen ausprobieren und eine Menge Alkohol trinken. Und vielleicht verstehen, warum es gut war, bei den Giraffen groß zu werden. Oder eben nicht. Und vielleicht gibt es dann bald eine neue Pinguinfamilie, deren Kinder bei Giraffen aufwachsen müssen.

Egal, wie sehr sich Giraffen anstrengen und wie sehr sie wollen, dass es dem Pinguin gut geht. Je mehr Liebe und Verständnis beutetet nicht gleichzeitig eine besser gelingende gute Entwicklung. Leider. 

Giraffenfamilien sind so viel wert und verdienen den allergrößten Respekt. Ich finde es unfassbar, was Giraffenfamilien leisten und in Kauf nehmen. Liebe Giraffenfamilien, klopft euch auf die eigene Schulter, denn ihr liefert einen unfassbaren Mehrwert für die Pinguine dieser Erde, die es mehr als verdient haben, eine weitere Chance zu bekommen. Denn die Pinguine können am wenigsten dafür…

Inspiriert wurde das kleine Beispiel vom YouTube-Video von Dr. Eckart von Hirschhausen „Das Pinguin-Prinzip“, indem er erklärt, dass er Pinguine lange Zeit für Fehlkonstruktionen gehalten hatte, aber dann auf deren unglaubliche Schwimmleistung aufmerksam wurde und schwer beeindruckt war. Zugleich motiviert er, die eignen Stärken zu sehen und einzusetzen, anstatt anderen Idealen hinterher zu hechten. U.a. redet er auch davon, dass eben einige Jahre Therapie aus einem Pinguin keine Giraffe machen können…

Über mich:

Nach meinem Studium Kunsttherapie an der HAN in Nijmegen (NL) habe ich 8 Jahre in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LVR Klinik in Bebdurg-Hau gearbeitet. Im Zuge dessen habe ich die Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychtherapeutin absolviert und bin seit 2013 in eigener Praxis mit Kassensitz in Emmerich am Rhein niedergelassen, seit Juli 2019 gehört ein zweiter Kassensitz und ein Team von 5 Angestellten zu meiner Praxis.  Ich bin Trauma- und EMDR-Therapeutin und berate seit langer Zeit Pflegeeltern, sowohl an meinem Schreibtisch als auch bei Fachvorträgen auf Veranstaltungen. Als Ausbildungspraxis betreue und supervidiere ich Psychotherapeuten in Ausbildung und unterrichte am Ausbildungsinstitut und an der HAN in Nijmegen. Zusätzlich bin ich Gutachterin für Familienrecht und berate regelmäßig das Amtsgericht und Oberlandesgericht mit Sachverständigegutachten. Seit Anfang 2019 leite ich zudem den traumatherapeutischen Ausbildungsgang am Freymut-Institut (www.freymut.de), wo Therapeuten, Pädagogen und Interessierte die Möglichkeit haben, sich traumatherapeutisch und -pädagogisch weiter zu bilden.

Und wenn Sie das alles interessant finden, dann folgen Sie mir gerne auf Facebook, Instagram oder Youtube, wo ich über den Alltag aus der Praxis und die kleinen und größeren Herausforderungen des Lebens berichte.

 

erschienen im PATEN, Ausgabe 04/2019 und 

ES TROPFT BLUTROT

RITZEN ALS REGULATIONSSTRATEGIE
von Eva Schoofs

„Mein Kind ritzt, wir brauchen sofort einen Termin!“ Diesen Satz höre ich oft und gleichzeitig höre ich die aufsteigende Panik bei den Eltern und Pflegeeltern. Die Panik vor tropfendem Blut, vor offenen Pulsadern und riesigen Blutlachen.

Eltern sind irritiert, wenn ich den Anruf nicht als Anlass sehe, notfallmäßig in eine Klinik zu verweisen oder unmittelbar noch in der selben Woche einen Termin vergebe. 

Ich sehe jede Woche aufgeritzte Arme, Beine und andere Körperteile. Das soll nicht bedeuten, dass ich die Problematik nicht ernst nehme oder verharmlose, aber ich habe über die Jahre gelernt einen deutlichen Unterschied zu machen: Ritzen hat in erster Linie nichts mit Suizid zu tun. Ritzen ist eine Strategie um Gefühle abzubauen, um enormen Druck aushalten zu können, um sich selber zu spüren oder sich zu bestrafen. Ritzen hilft zu vergessen, zu fühlen, los zu lassen. Das laufende Blut zeigt, dass man lebt. Der Schmerz bedeutet, dass man doch noch etwas fühlen kann. Ritzen ist sowas wie das Türe knallen, rumbrüllen und kaputtschlagen aus der früheren Zeit. Da schrie man noch alles aus sich heraus, heute machen eine Vielzahl der Jugendlichen die Dinge mit sich selber aus. Im verschlossenen Zimmer mit Klingen, Scherben, Scheren und Sonstigem. Und auch während ich das schreibe weiß ich, dass auch Teile in mir, nach fast zwei Jahrzehnten Praxiserfahrung, die Strategie nach wie vor befremdlich finden. Trotzdem muss ich in meinem Therapiealltag akzeptieren, dass es diese Strategie gibt und einen Weg finden, Eltern und Jugendlichen dabei zu helfen einen Umgang zu finden. Und Ruhe bewahren ist die allererste Regel…

Denn das laufende Blut macht sprachlos und erzeugt eine Schnappatmung. Man hält die Luft an, hofft, dass alles gut geht und ist verständnislos, wozu die Jugend diese Strategie so nötig hat. Völlige Hilflosigkeit bei Eltern oder Bezugspersonen. 

Durchatmen, den Schock weg schlucken, denn der verleiht den Jugendlichen Macht, und weißgott ist ein nicht geringer prozentualer Anteil dabei, der einfach nur Aufmerksamkeit möchte. Den will man nicht bedienen, denn dann gewöhnen sich die Jugendlichen an, ab und zu mit tropfenden Armen vor einem zu stehen.

In den meisten Fällen geht es aber nicht um Aufmerksamkeit, sondern um die anschließende Angst, es übertrieben zu haben und bleibende Schäden über Narben hinaus angerichtet zu haben. Blutet es mal mehr, kriegen die Aktivisten meist Angst und wünschen sich Hilfe, der Zeitpunkt, in dem die Blutspur dann Richtung Eltern führt. Der erste Impuls ist sicherlich Ärger aus Angst und Wut aus Verzweiflung, bringt in dem Moment aber rein gar nichts. Der Jugendliche sucht Hilfe bei einem Erwachsenen und die sollte er bekommen, denn nach wie vor sind Jugendliche auf die Unterstützung von Erwachsenen angewiesen. 

Vorzugsweise reagieren durch die Benennung der Situation „Herrje, ich seh dir geht es nicht gut! Wie schlimm ist es?“ Kurze Begutachtung der Situation und die Entscheidung, ob ein Krankenhaus aufgesucht werden muss, um die Verletzungen zu nähen oder zu kleben. Sollte dies nicht der Fall sein, kann man seine neutrale Hilfe beim Reinigen und Verbinden anbieten oder aber nur Verbandszeug mitgeben und dem Jugendlichen die Eigenverantwortung übergeben. Auch wenn er gerade noch bewiesen hat, dass er mit dieser offensichtlich überfordert ist. Wir nehmen ernst und reagieren ruhig.

Fragen mit dem beliebten „Warum“-Wort werden keine Antwort bekommen. Die Jugendlichen sind in dem Moment in Angst, haben einen Schreck, haben gerade enormen Stress abgebaut und sind oft nicht fähig, klar zu denken. Schon gar nicht in der Lage zu diskutieren oder sich zu erklären. Dafür sucht man sich besser einen späteren Zeitpunkt, wenn Ruhe eingekehrt ist, vielleicht bei einer Tasse Tee oder Kakao. Und auch dann muss nicht zwingend eine Antwort oder erklärende Kommunikation zustande kommen. Viele Jugendliche wollen nicht darüber reden. Schon gar nicht mit den engsten Bezugspersonen. Meist aus Angst vor Kritik, Abwertung oder Sorge über Unverständnis.

Und auch, wenn ich behaupten möchte, dass die Jugendlichen in meiner Praxis einen neutralen Raum sehen und 80% sich bei mir wohl fühlen, ich nicht werte und eine Menge Verständnis habe, erzählen sie auch mir nicht immer, wie es so weit kommen konnte und was Auslöser gewesen ist. Manche wissen es auch schlichtweg nicht. Viele wollen sich spüren, wollen sehen, dass sie leben, spüren Entlastung, wenn das Blut fließt. Oder wollen sich bestrafen. Dafür, dass sie auf der Welt sind. Für mich nicht verständlich oder nachvollziehbar, aber es dürfen ja auch Strategien außerhalb meines Verständnisses existieren. Eine Lösung muss trotzdem her.

Man kann auf jeden Fall Unterschiede machen und Ritzen in verschiedene Kategorien einteilen. Harmlos sind die oberflächlichen Kratzer, die nur einige wenige Tage zu sehen sind. Manchmal sind es einzelne Ritzer, manchmal grossflächig den ganzen Unterarm oder Oberarm entlang. Unschön wird es im Gesicht oder am Hals. Meist sind die Schnitte in wenigen Tagen verheilt und es bleiben, wenn überhaupt, schmale, helle Narben.

Ritzen die Jugendlichen tiefer, entstehen blutende Schnitte, die noch längere Zeit zu sehen sind, breitere Narben hinterlassen. Auch die habe ich schon an sämtlichen Körperteilen gesehen. 

Wirklich unschön sind weit klaffende Schnitte, die genäht oder geklebt werden sollten. Sie hinterlassen unschön wulstige Narben und brauchen oft lange zum verheilen.

Eine Stufe höher sind dann Jugendliche, die sich selber Nähzeug im Internet bestellen und sich nach tiefen Schnittverletzungen selber nähen oder alles mögliche in die offenen Wunden rein kippen und sie damit am abheilen hindern. Kloreiniger, Waschpulver… Alles schon erlebt. Auch Verbrennungen oder Verstümmelungen anderer Art können immer wieder beobachtet werden. In diesen Fällen sind oft frühkindlicher Missbrauch und Vernachlässigung in der Vergangenheit zu finden. Gott sei Dank nicht die Regel, denn da entsteht auch bei mir Schnappatmung. Aber jedes Verhalten wird durch irgend etwas ausgelöst. Nichts geschieht ohne Grund. Jugendliche werden zu dem, zu was wir sie machen.

Ich versuche mit den Jugendlichen in meiner Praxis ein Stressmodell zu erarbeiten, in dem sie verstehen lernen, dass Anspannung sich meist langsam aufbaut und gut beobachtet werden muss. Ist ein gewisser Anspannungsgrad überschritten, wird man nichts anderes tun können, als sich weh zu tun. Viele Jugendlichen berichten, dass es keine entlastendere und erlösendere Methode gibt, als sich selber in die Haut zu schneiden. Ich weiß noch, dass ich es selber als Jugendliche probiert habe und es blöd fand. Aber es gibt genug, die es nutzen. Und möchte man lernen, andere Strategien einzusetzen, dann muss man lernen, seinen eigenen Anspannungspegel einschätzen zu können. Muss sich selbst gut beobachten können und schon früh intervenieren, mit Alternativstrategien, die den Stress niedrig halten und somit den Stresshochstand zu vermeiden. Eine Aufgabe, die vielen nicht gerade leicht fällt. Mir selber auch nicht, wenn ich ehrlich bin. Ich esse dann 300g Nougatschokolade, aber vorhersehen tu ich das meist auch nicht. Auch hier also eine hohe Erwartung an die Jugendlichen, sich vorhersagen zu können.

„Sagen sie ihr mal, dass sie das sein lassen soll!“ der Wunsch vieler Eltern, nicht mehr mit dem Problem konfrontiert zu sein. Schöne Idee, bringt aber nichts. Weil ja das Gefühl durch das Verbot nicht weg geht. Dafür muss eine Lösung her. Für die Anspannung Stufe 10. Da kann ich nicht einfach erwarten, dass die sich in Luft auflöst. „Sie hat aber versprochen, dass sie das nicht mehr macht!“ sagen enttäuschte Eltern über ihre pubertierenden Töchter. Meist schnauben die Eltern dann wütend, wenn ich erkläre, dass man bitte von 15-jährigen pubertierenden Teenagern keine Versprechen annimmt, weil es naiv ist. Und erkläre die Situation mit dem Gefühl. Große fragende Augen und noch mehr Hilflosigkeit. 

Als Eltern wird man nicht viel mehr tun können, als zu versuchen zumindest wertfrei oder aber wertschätzend mit den Kindern und Jugendlichen zu reden und sie versuchen zu verstehen. „So ein Quatsch!“ oder „Du hast keinen Grund, dass du dich so schlecht fühlst!“ wird nicht weiter helfen, eher dazu führen, dass die Jugend nichts mehr von sich preis geben wird. Weil sie sich unverstanden fühlt. Und vermittelt bekommt, dass die Gefühle nicht sinnvoll und nicht real sind. Sie fühlen sich für sie aber so an. Ein Streit mit der besten Freundin kann Auslöser sein. Das erwachsene Gehirn weiß meist, dass Jugendliche sich schnell wieder vertragen, aber das jugendliche Hirn weiß das noch nicht und leidet. Und es bringt nichts zu sagen „das wird schon wieder!“ Das Gefühl wird nur besser, wenn man es so annimmt, wie es vorhanden ist. Und am besten teilt man den Jugendlichen mit, dass man sieht, wie schrecklich sie sich fühlen. Dann kann die Amygdala, die im Gehirn für die Gefühle zuständig ist, aufhören sich zu bemühen, allen zu zeigen, wie schlecht es einem geht. 

Hilfe anbieten, im Sinne von „Kann ich dir bei irgendwas helfen?“ oder „Brauchst du etwas von mir?“ und ggf. mal in den Arm nehmen. Sich die Gefühle erklären lassen und zuhören.  Zugehörigkeit und Verständnis vermitteln, auch wenn sie keines spüren. Springen sie über ihren Schatten und vermitteln Sie den Jugendlichen, dass sie okay sind, wie sie sind. Meist wäschst sich das Ritzen nach einiger Zeit von selber raus und die Jugendlichen finden andere Strategien. Am besten passiert das aus eigener Entscheidung und nicht aus Femdbestimmung.

In der Therapie besprechen wir einen Notfallkoffer, eine Box, in die wir Dinge packen, mit denen man frühzeitig versuchen kann, Stress abzubauen um so ein Ritzen oder Ritzdruck zu vermeiden. Wir teilen den Stress in drei Stufen, wobei Stufe 1 „leichter Stress“ bedeutet. Stufe 2 bedeutet „mittlerer Stress“ und Stufe 3 „starker Stress“. Anbei eine Liste von Dingen, die in den unterschiedlichen Stufen als Regulator helfen können, wobei hier zu beachten ist, dass jeder Mensch anders reagiert und andere Bedürfnisse hat:

Stufe 1 – Buch zum Lesen, Malbuch, Duschschaum zum Duschen oder Baden, Duftkerzen, Entspannungstee, scharfe Lakritze oder Center Schocks, Brausetabletten, Fotos, Briefe, gute Playlist zum Ablenken, eine Clownsnase aufsetzen und im Spiegel ansehen, Noppen-Folie, verschiedene Düfte, Nägel lackieren

Stufe 2 – Wasabi-Nüsse, scharfer Senf, Kühlpack, Akkupressurkugeln, Akkupressurringe, Finalgon für auf die Haut (brennt), Teebaumöl, chinesisches Heilpflanzenöl, Sambal Oelek, kalt duschen, Saunatuch in der Wanne unter Wasser halten und dann auswringen – 3 mal wiederholen, rennen, Steine in die Schuhe, mit Armbändern ans Handgelenk schnippen, Kaltwachsstreifen, Tabasco

Stufe 3 – Ammoniak-Riechstäbchen, Jalapenos scharf, Chilischoten

Ritzen stellt sich nach wie vor als die effektivste Methode gegen straken Druck heraus und ist kaum durch einen anderen Reiz zu ersetzen. Manchen Patienten hilft es, sich Kunstblut über die Arme laufen zu lassen, aber viele müssen bei wirklich starkem Stress die Haut kaputt machen und sich weh tun und finden keine Alternativen, die stark genug sind. Ein Patient, der tatsächlich sehr oft mit enormen Anspannungsgefühlen zu kämpfen hatte, gab an, nie etwas gefunden zu haben, was alternativ ausreichend sei. Bis letztens, da hatte er eine Chili gegessen, die ihm nicht geholfen hatte, aber dann hatte er sich mit den Chili-Fingern die Augen gerieben und eine Stunde geheult. Er habe endlich seinen besten Alternativ-Skill gefunden… Schön. Was soll ich sagen.

Wichtig ist, dass man dem Stress etwas entgegen setzt, bevor man verlangt, dass er sich in Luft auflöst. Die Jugend ist einer anstrengenden Welt ausgesetzt mit Reizen, die es früher noch nicht gab. Kein Wunder, dass Strategien im Umgang damit entstehen, die es früher auch nicht gab. Letztendlich ist das Ritzen Mittel zum Zweck, sich zu spüren und das hilft vielen weiter. Auch wenn es im ersten Moment auf Außenstehende nur destruktiv wirkt.

Ritzen ist eine scheiß Strategie, aber es ist besser als KEINE Strategie.

 

erschienen im PATEN, Ausgabe 03/2019

ÜBER DIE HERAUSFORDERUNG EINES NETZWERKES

(TRAUMATISIERTE) PFLEGEKINDER UND ALLE BETEILIGTEN IN EINEM KONSTRUKT. TRAUM ODER ALPTRAUM?
von Eva Schoofs

Wie man ein Trauma erkennt, diagnostiziert, behandelt und als Betroffener damit umgeht, darum ging es in den letzten 3 Artikeln. Über das Netzwerk um die Kinder herum, das multiprofessionelle Team und dessen Herausforderungen, Grenzen und Schwierigkeiten, darum soll es in diesem Artikel gehen. Wobei man nicht allgemein sagen kann, dass traumatisierte Kinder unbedingt ein anderes Netzwerk brauchen als andere Kinder, die schon viel erlebt haben. Und ist nicht ggf. jedes Kind, was von seinen Eltern getrennt wurde bzw. werden musste, auf irgendeine Weise traumatisiert? 

Letztendlich geht es in dem Artikel heute insgesamt um das Netzwerk, das sich um Kinder sammelt. Die Kinder, die traumarisiert sind oder andere alltagsbeeinflussende Störungen wie zum Beispiel FASD haben, bringen einfach eine individuellere Behandlungsnotwendigkeit und einen größeren Aufwand mit sich, den vor allem die Bezugspersonen auffangen müssen und deshalb besondere Unterstützung von ihrem Netzwerk brauchen. Ich habe mir längere Zeit über die Struktur diese Artikels Gedanken gemacht und mich für folgende Idee entschieden:

KARLA

Karla ist 8 Jahre alt und wohnt seit 2 Jahren in einer Pflegefamilie. Als sie 5 Jahre alt war wurde sie mit all ihren Geschwistern bei den leiblichen Eltern in Obhut genommen. Schon immer wurde Karlas Familie durch das Jugendamt betreut, allerdings ist die Familie einmal umgezogen, sodass es einen Wechsel des zuständigen Jugendamtes gab. Als Karla 4 Jahre alt war, wurde die aufsuchende Hilfe vom Jugendamt, Frau Kisters, schwanger und eine neue engagierte Kollegin, Frau Meyer, kam, um die Familie zu unterstützen. Diese wusste allerdings nicht, dass ihre Kollegin Frau Kisters zuvor vermutet hatte, dass der leibliche Vater die Kinder missbraucht. Auch Karla. Frau Meyer entschied letztendlich, dass Karla, und auch die anderen Kinder, bei den Eltern nicht mehr gut aufgehoben sind und Karla kam in eine Bereitschaftspflegefamilie. Wohin ihre Geschwister kamen weiß sie nicht. Für alle Kinder zusammen war kein Platz. Den Eltern wurde kurzfristig das Sorgerecht entzogen und ein Vormund bestellt, eine Jugendamtskollegin von Frau Meyer. Nach einiger Zeit kam Karla dann zu Familie Schmidt, in der sie heute lebt. Frau Meyer hatte allerdings zwischenzeitlich eine leitende Position in einem anderen Jugendamt angeboten bekommen, sodass sie die Familie nicht mehr weiter begleiten konnte und jemand neues zuständig wurde.

Karla vermisst ihre Geschwister und ihre Eltern, auch wenn die sich manchmal nicht so nett benommen hatten. Sie fragt sich, was alle jetzt machen und ob es allen gut geht. Die Geschwister wohnen offenbar zu weit weg, als dass man sie besuchen könnte. Die Eltern hatte Karla mal zu Besuchskontakten gesehen, aber Papa und Mama waren einmal betrunken, danach durften sie Karla erstmal nicht mehr sehen. Obwohl sie gerne bei Familie Schmidt lebt, fühlt Karla sich oft einsam und allein. Sie ist oft in ihrem Zimmer und bastelt, manchmal wird sie ohne Grund wütend und zerschneidet dann einfach alles. Es ist dann auch schon mal ein T-Shirt oder eine Bettdecke dazwischengekommen. Das gefiel Mama Schmidt gar nicht. 

Bei Familie Schmidt gibt es immer Essen, was Karla gefällt. Wenn sie mal richtig starken Hunger bekommt, muss sie immer sofort an früher denken und dass es oft nichts zu essen gab. Dann schleicht sie sich in die Küche und holt sich schnell einen Joghurt, Käse, Wurst und Süßigkeiten. Für den Fall, dass Familie Schmidt mal vergisst einzukaufen. Der Kleiderschrank ist ein tolles Versteck. Sie erinnert sich, dass sie diesmal daran denken muss, dass nicht wieder alles anfängt zu schimmeln und zu stinken, wie beim letzten Mal, das hat Ärger gegeben. Aber mit dem Essen im Schrank fühlt sie sich viel sicherer, als könnte ihr nichts mehr passieren. Und sie muss nie wieder hungern.

Vor Herrn Schmidt hat sie manchmal Angst, vielleicht möchte der bald dieselben Dinge wie Papa, der sie sehr lieb gehabt hat. Deshalb wollte er Karla auch immer streichen und sie sollte ihn streicheln, am Penis. Das mochte Karla gar nicht, fand es eklig, aber das war, weil Papa sie so lieb hatte. Bei Familie Schmidt gibt es so etwas nicht. Ob das bedeutet, dass sie sie nicht lieb haben? Karla fragt sich oft, ob sie daran schuld ist, dass sie nicht mehr bei Mama und Papa wohnen kann, weil sie ihrer besten Freundin Mia erzählt hat, dass sie mit ihrer Schwester heimlich Essen geklaut hat, bei Aldi. Weil Mama vergessen hatte einzukaufen und es nichts gab außer diesem ekligen Bier und Chips. Aber die hatten die Freunde von Papa alle weggegessen.

Mama und Papa hatten auch oft gesagt, dass sie dumm und nichts wert sei, vielleicht haben sie ja Recht.

Deshalb träumt sie dann auch oft schlecht und manchmal, wenn sie ganz tief träumt und noch trauriger ist als sonst, dann macht sie nachts sogar in die Hose. Das ist früher auch immer passiert.

Manchmal ist Karla froh, bei Familie Schmidt zu sein, die sehr nett ist, aber alles so völlig anders macht. Und dann wieder ist sie einfach wütend. Und sie weiß dann gar nicht, wohin mit ihrer Wut. Manchmal muss sie dann in der Schule ausrasten oder zu Hause. Sie kann dann einfach nicht anders und brüllt, alle Worte, die sie aus Erwachsenenstreits kennt, und das sind einige, denn Papa und Mama haben sich oft gestritten. Karla kennt viele gemeine Worte. Aber bei Familie Schmidt streitet man gar nicht mit gemeinen Worten. Die machen das irgendwie anders und für die ganzen Worte gibt es eher eine Strafe, als dass man damit gewinnen kann. Das irritiert Karla.

Nach der Wut kommt meistens die Angst, dass sie ihre Familie nie wiedersehen kann, dass vielleicht auch Familie Schmidt sie irgendwann nicht mehr will, und dann weiß sie gar nicht, was sie machen soll. Wo sie dann bleiben soll. Die Sorgen sind manchmal so groß, dass sie in der Schule gar nicht aufpassen kann. Das gefällt den Lehrern nicht und manchmal wird sie dann wütend, wenn die Lehrer ungerecht sind. Einmal hat Karla sogar die Klassenlehrerin geschlagen, weil die ihren Arm genommen hat und laut mit ihr geredet hat und Karla hat sich daran erinnert, dass ihre Mutter das auch getan hat und ihr dann den Arm immer auf den Rücken gedreht hat. Das hat unfassbar weh getan. Manchmal brüllt Karla auch einfach so los, damit alle Angst vor ihr bekommen und sie in Ruhe lassen. Und das führt dann wieder dazu, dass alle ganz enttäuscht von ihr sind und sie traurig ansehen. Das findet Karla ganz schrecklich und fühlt sich dann meist noch wertloser. Manchmal haut sie dann ihren Kopf gegen das Bett oder kratzt sich, bis es fast blutet. Sie weiß doch auch nicht, was sie machen soll. Manchmal wüschet sie sich, dass sie einfach nicht mehr da wäre.

FRAU SCHMIDT

Frau Schmidt ist verheiratet und hat selber 3 Kinder, 1 davon ist schon erwachsen. Sie selber ist mit 4 Geschwistern groß geworden und mag das Flair einer Großfamilie. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie vor einigen Jahren überlegt, dass sie zwar keine eigenen Kinder mehr bekommen wollen, aber Pflegekindern die Möglichkeit bieten möchten, bei Ihnen aufzuwachsen und Teil der Familie zu sein. Frau Schmidt selber hat eine Erzieherausbildung absolviert, arbeitet jedoch nicht mehr. Herr Schmidt ist vollzeitangestellt bei einer Bank in einer leitenden Position. Mittlerweile leben 2 Pflegekinder mit in der Familie, eines ist erst 2 Jahre alt und das andere ist Karla. Sie lebt seit 2 Jahren bei Familie Schmidt. Sie ist aus einer Bereitschaftspflegefamilie zu ihnen gekommen und galt als ruhig und in sich gekehrt. Viele Infos aus der Vergangenheit hat Frau Schmidt nicht bekommen, die zuständigen Personen vom Jugendamt haben gewechselt und die Familie ist umgezogen, sodass es keine vollständige Dokumentation und Berichte gibt, wie der Zustand in der Ursprungsfamilie tatsächlich gewesen ist. Welche Verhältnisse geherrscht haben kann nur vermutet werden und leider redet Karla nicht gerne über früher. Die anfänglichen Besuchskontakte zu den leiblichen Eltern waren ein Desaster und wurden schnell wieder eingestellt. Aktuell dürfen noch nicht mal begleitete Kontakte stattfinden, aber Frau Schmidt weiß, dass die Eltern gerichtlich vorgehen, um einen Umgang zu erwirken. Das macht ihr Angst, weil sie Karla sowieso schon als belastet ansieht und sich nicht vorstellen kann, wie es mit erneuten Besuchskontakten der Eltern verlaufen wird.

Im ersten halben Jahr war Karla sehr angepasst und man hörte und sah nicht viel von ihr. Mittlerweile sieht das anders aus. Frau Schmidt tut sich schwer damit, Karla zu verstehen. Es gibt immer weitere Streits und Karla ist aggressiv. Sie flippt bei Kritik schnell aus. Ohne Grund zerschneidet sie Dinge, macht auch teure Dinge kaputt. Frau Schmidt hat mit Engelsgeduld immer wieder versucht auf sie einzugehen, motiviert sich immer wieder Verständnis zu haben, aber dann kommt Karla mit dem nächsten Ding. Der Antrag auf Erstattung von teuren, zerstörten Gegenständen ist vor einiger Zeit vom Vormund gesellt worden und liegt vermutlich irgendwo. Frau Schmidt registriert, dass sie schon lange nichts mehr darüber gehört hat. Vor einigen Wochen musste der ganze Kleiderschrank grundgereinigt werden, weil Karla darin Essen versteckt hatte und ein offener Joghurt und Käse angefangen hatten zu schimmeln. Zudem war Ungeziefer angezogen worden und im Schrank und in sämtlichen Kleidungsstücken sind Käfer gekrabbelt. Der Geruch der vergammelten Lebensmittel ist Frau Schmidt erst gar nicht aufgefallen, da Karla nachts auch oft ins Bett macht und nicht immer Bescheid gibt. Manchmal versteckt sie die nassen Unterhosen und Schlafanzüge im Schrank und Frau Schmidt findet sie erst einige Tage später, aufgrund des beißenden Urin-Geruchs, der sogar das Gammel-Essen überdeckt hat. Sie kann nicht nachvollziehen, wie man so unsauber sein kann und hat Karla schon öfter erklärt, ihr Bescheid zu geben, wenn es nachts wieder in die Hose gegangen ist. Das schafft Karla aber nicht immer und mittlerweile hat sie manchmal den schlimmen Gedanken, dass Karla das extra machen könnte.

Mit der Schule wird es auch immer schwieriger, in der letzten Zeit ruft die Lehrerin immer öfter an und beschwert sich über Karla. Sie sei in der Klasse nicht tragbar, sagt sie dann. Einmal hat Karla die Lehrerin sogar geschlagen und oft brüllt sie in der Klasse rum. Warum sie das macht, weiß Karla nicht und zuckt dann oft nur die Schultern. Frau Schmidt merkt, dass sie wütend wird, wenn sie daran denkt. Sie möchte Karla gerne helfen und bemüht sich, ruhig zu bleiben und Verständnis zu haben, aber irgendwie versteht sie Karla nicht. Sie hat sich schon hilfesuchend an den Vormund gewendet, der aber selten Zeit hat. Das Jugendamt hat an den Träger verwiesen. Die Schule übt Druck auf Frau Schmidt aus und will eine Lösung. Sie hat verlangt, dass ein Integrationshelfer beantragt wird, der Karla in der Schule begleitet. Der Träger, an den Frau Schmitz angebunden ist, findet die Idee gut und möchte sie diesbezüglich unterstützen. Die Dame vom Jugendamt hat letztens aber erst einmal einen Klinikaufenthalt zu einer genaueren Diagnostik vorgeschlagen, bevor man einen I-Helfer installiere. Ihrer Meinung nach müsste ggf. dann auch erst mal geguckt werden, ob Karla auf der richtigen Schule sei. 

Frau Schmidt fühlt sich zwischen zwei Stühlen stehend und weiß nicht, was sie gut finden soll. Auf der einen Seite möchte sie Karla ungern einen Schulwechsel und vor allem einen Klinikaufenthalt zumuten, würde aber selber gerne mehr über Karlas Probleme wissen und sie besser verstehen. Sie nimmt sich vor, bald mit dem Vormund darüber zu reden, denn die Schule wird von Woche zu Woche unangenehmer und unzufriedener.

Zwar gibt es über den Träger, von dem Familie Schmidt betreut wird, immer wieder Supervisionsangebote, aber dort nehmen auch andere Familien teil und Frau Schmidt hat nicht immer die Möglichkeit, ihre Schwierigkeiten mit Karla zu schildern. Die anderen Familien haben ganz andere Probleme und zwar hört Frau Schmidt immer aufmerksam zu, um alle guten Tipps und Informationen über sämtliche Themen mitzunehmen, aber vieles passt dann doch nicht auf Karla und würde eine Einzelberatung benötigen, für die einfach oft die Zeit fehlt. Noch letztens hat sie über einen Träger gelesen, der auch interne Fortbildungsangebote für die Pflegefamilien bereitstellt und das zu unterschiedlichen Themengebieten. Außerdem wurden Ferienbetreuungen angeboten, an denen Pflegekinder 2-mal im Jahr teilnehmen können und zuständige Begleiter der Familie würden sich wöchentlich melden und immer rufbereit und ansprechbar sein. Davon träumt Frau Schmidt nur. So ein Angebot würde Frau Schmidt sich wünschen, um selber mal zur Ruhe zu kommen und etwas Energie tanken zu können. 

Sie merkt, dass die Betreuung und Erziehung von Karla mehr Aufwand, Wissen und Kraft mit sich bringen, als sie gedacht hat.

Als sie sich als Pflegefamilie beworben hat, hat sie sich das ganze irgendwie anders vorgestellt. Es gab zwar einige Schulungseinheiten über Kindesentwicklung, Verhaltensauffälligkeiten und sinnvolle Interventionsstrategien, aber sie merkt, dass sie bezüglich Karla und ihrem Verhalten hilfloser wird und ihr Wissen und ihre Kompetenz nicht ausreichen, um Karla zu verstehen. Manchmal hat sie das Gefühl, dass sie eine Auszeit braucht, um durchatmen zu können und wieder zu erkennen, was sie an Kindererziehung gerne macht. Eine Anfrage ans Jugendamt für Unterstützung diesbezüglich wurde zwar gestellt, aber Frau Schmidt hat noch keine aktuelle Rückmeldung, welche Hilfen für sie in Frage kommen könnten. Angedeutet wurde allerdings schon, dass Entlastungswochenenden oder ähnliches nicht vorgesehen sind. Lange kann das nicht mehr so weiter gehen. Zudem fängt Frau Schmidt an, an sich und ihren Kompetenzen zu zweifeln. Sie merkt, dass ihre Hilflosigkeit sie oft wütend werden lassen und sie hat Angst, dass die Kinder darunter leiden müssen. Sie traut sich auch gar nicht, offen darüber zu reden, weil sie Sorge hat, als inkompetent angesehen zu werden und die Kinder weggenommen zu bekommen.

FRAU KARL

Frau Karl ist für die für Familie Schmidt zuständige Jugendamtsmitarbeiterin vom Pflegekinderdienst und mag ihren Job. Sie versucht, alle bestmöglich zu unterstützen. Leider ist aktuell eine Kollegin krank, eine Kollegin ist schwanger und die Urlaubszeit steht an. Sie übernimmt notfallmäßig für eine der Kolleginnen die Buchstaben A-H. Eigentlich ist ihr eigener Kalender sowieso schon sehr voll, aber irgendwie muss es passen. Heute Nachmittag ist eigentlich ein Kontakt mit Frau Schmidt geplant und es soll darum gehen, welche Hilfen Frau Schmidt ggf. noch beziehen kann, um Unterstützung zu bekommen, um vielleicht mal ein Wochenende Entlastung zu haben und wie die Schulsituation geregelt werden kann. Sie hat schon mitbekommen, dass es mit Karla aktuell nicht so gut läuft und will den Fall vorher am Vormittag noch im Team vorstellen und sich mit Kollegen besprechen. 

Im Team stellt sich heraus, dass es in einer anderen Familie, deren zuständige Kollegen aktuell nicht im Dienst sind, brennt, und dass es ggf. heute noch zu einer eventuellen Fremdunterbringungen kommen muss, wofür noch kein Plan besteht. Jemand muss zu der Familie fahren, jemand muss sich darum kümmern, wo die Kinder untergebracht werden können und jemand muss alles andere drum herum organisieren. Eigentlich hat keiner Zeit übrig, aber Kinder sind in Not und brauchen Hilfe. Also geht es im Team um die heutige Schadensbegrenzung und die Organisation der wahrscheinlichen In-Obhutnahme. Für mehr bleibt keine Zeit. Die Leitung bittet darum, Prioritäten zu setzen, auch wenn es schwer fällt. Gemeinsam wird überlegt, was zusätzlich am Tag noch erledigt werden muss und welchen Familien es eventuell zuzutrauen ist, Termine auf die kommende Woche zu verlegen, in der es vielleicht ruhiger ist. 

Frau Karl hat ein schlechtes Gewissen, dass Frau Schmidt zu den Pflegemüttern gehört, der sie zutrauen muss, noch eine Woche zu warten. Weil sie sie für kompetent und ausdauernd hält und heute einfach keine Zeit sein wird. Frau Karl weiß, dass Frau Schmidt enttäuscht sein wird, hat aber selber keine bessere Lösung und keine andere Wahl. Sie mag es gar nicht, wenn es so viel wird, weil sie weiß, dass man dann doppelt aufpassen muss und nochmal genauer hinsehen muss, um keine Gefahr zu übersehen. Sie hätte gerne mehr Zeit für die Familien und würde gerne mehr helfen. Sie nimmt sich vor, morgen in Ruhe über Karla und Frau Schmidt nachzudenken und sie dann in Ruhe anzurufen. In dem Moment teilt die Leitung noch mit, dass in der nächsten Woche über das Budget geredet werden muss und in einigen Fällen die Ziele und eingesetzten Maßnahmen abgeglichen werden müssen. Frau Karl ist klar, dass der Plan bezüglich Frau Schmidt keine gute Prognose hat, weil diese bereits an einen Träger angebunden ist, die zusätzliche Beratung anbieten. Dann kümmert sie sich um den Notfall und holt mit ihrer Kollegin 3 völlig verwahrloste Kinder aus einem Messi-Haushalt mit einer betrunkenen Mutter. Das Baby ist bewusstlos.

FRAU HERZOG

Frau Herzog ist Amtsvormündern und im Jugendamt angestellt. Sie betreut 48 Kinder. In manchen Fällen ist es nicht so einfach, wenn sie unzufrieden mit den Leistungen für einige Mündel ist und die dafür zuständige Instanz auch gleichzeitig ihr Arbeitgeber, das Jugendamt, ist. Sie arbeitet 39 Wochenstunden. Zu ihren Aufgaben gehören alle Details, die ansonsten sorgeberechtigten Eltern erledigen würden: für Zustimmung bei Arztbesuchen, Schultelefonate, Verlaufsberichte, Hilfeplangespräche, Kommunikation mit Versicherungen, unterschiedlichen Trägern und für die Stellung von sämtlichen Anträgen ist sie verantwortlich. Bei jedem Kind. 

In einigen Fällen laufen Gerichtsverfahren, zu denen sie regelmäßig Stellung beziehen muss, bei deren Gerichtsverhandlungen sie anwesend sein muss und deren Bearbeitung viel Zeit in Anspruch nimmt. Einige ihrer Mündel bedürfen intensiverer Arbeit und es türmt sich seit Monaten ein großer Berg Papier vor ihr. Angelegenheiten, in denen es schon mehrfache Nachfragen gab oder Mahnungen vorliegen, haben Priorität. Bei 48 Mündeln fällt es ihr manchmal schwer, den Überblick zu behalten – verständlicherweise. 

Ein Grund, weshalb sie sich regelmäßig alles aufschreibt und gut dokumentiert. Eigentlich hätte sie schon längst keine neuen Mündel mehr nehmen wollen, aber einige externe Kollegen sind abgesprungen, sodass einige Kinder neu verteilt werden mussten und noch keine Zeit war, freie Vormünder zu finden. Ungünstig, wenn man sich erst mal in die Akten der anderen einlesen muss und dann Entscheidungen treffen soll, die dem jeweiligen Kind zugutekommen. Ein großer Zeitaufwand und davon hat Frau Herzog eigentlich zu wenig. Einmal im Monat bei den Mündeln zu sein schafft sie oft nicht. In manchen Familien läuft es sehr gut, und sie weiß, dass sie nicht einmal monatlich dort sein muss, regelmäßige Telefonate und kurze Rückmeldungen reichen aus, aber gerade in Familien, in denen es nicht gut läuft, müsste sie öfter präsent sein und das klappt oft nicht, was sie ärgert. Noch heute hat sie einen Anruf von Frau Schmidt bekommen, dass sie gerne einen Termin bezüglich Karla hätte. Frau Schmidt wünscht sich mehr Unterstützung. Sie weiß jetzt schon nicht, wo sie den Termin diese Woche noch unterbringen soll, ab nächster Woche hat sie 2 Wochen Urlaub, auf die sie sich schon ewig freut. Die Kollegin vom Pflegekinderdienst hat außerdem heute in der Mittagspause noch gesagt, dass es nächste Woche nochmal Gespräche über Wirtschaftlichkeit von Maßnahmen geben wird, und das bedeutet, dass gezielt geschaut wird, welche Maßnahmen wie zielführend, notwendig und sinnvoll sind. Und weil die Kommune nur einen bestimmten Betrag an Mitteln zur Verfügung stellt, ist es sinnvoll, immer wieder zu überprüfen, ob Gelder bestmöglich eingesetzt werden. Aber Fakt ist, dass es zu viele Baustellen gibt. Im Kopf erstellt sie eine Liste, welche Hilfen bei welchen Mündeln auf jeden Fall intensiviert werden müssen. In dem Moment, in dem sie Frau Schmidt anrufen will, um ihr Anliegen zu besprechen, klingelt ihr Telefon und sie bekommt vom Amtsgericht den Auftrag, in 2 Fällen unverzüglich als Vormund tätig zu werden, da Gefahr im Verzug herrscht. Der Anruf bei Frau Schmidt muss warten.

Oben beschriebener Fall ist rein exemplarisch und Auswahl der Namen und Personen Zufall. Sicherlich sind Abläufe in beschriebenen Personengruppen unterschiedlich, das Beispiel soll lediglich als Exempel zeigen, wie komplex Zusammenhänge sind und wie viele Instanzen zum Teil in einen Fall involviert sind. Zudem möchte ich betonen, dass dies die Sicht aus meiner therapeutischen Perspektive ist.

Das oben genannte Beispiel ist eines von sehr, sehr vielen und es gibt unzählige andere weitere Probleme, die nur, weil sie hier nicht genannt wurden, nicht weniger Relevanz haben. Es sollte hier lediglich ein Einstieg in die Thematik geboten werden.

Schon beim Lesen der oben aufgeführten Berufsfelder verschwimmt Karla mit ihrer Problematik eigentlich, um deren Bedürfnisse und Probleme es aber primär gehen sollte. Die beschriebene Situation soll zeigen, wie schwierig es ist, für Kinder, die Schreckliches erlebt haben, einen guten und hilfreichen Rahmen zu stricken und eine Zukunftsperspektive zu entwickeln, wenn so viele andere Faktoren eine Rolle spielen und das drum herum oft mehr Kraft kostet als der Fall an sich. 

Es ist unfassbar toll, wie viele Menschen bereit sind, Pflegekinder aufzunehmen und helfen wollen. Allerdings ist ihnen oft nicht klar, was es bedeutet, Kinder mit frühkindlichen Traumatisierungen und daraus resultierenden Bindungsstörungen bei sich aufzunehmen. Die Folgen und das notwendige Verhalten im Umgang mit solchen Verhaltensauffälligkeiten, die im dritten Artikel in der letzten Ausgabe beschrieben wurden, ist Pflegeeltern oft nicht bewusst. Der organisatorische Teil, der auf einen zukommt, meist ebenfalls nicht. Und für viele ist das Terrain Neuland und zusätzlich bringt jedes Kind sowieso individuelle Anforderungen mit sich, sodass man sich oft noch nicht einmal auf eigene Erfahrungswerte und Lernprozesse berufen kann und auf die Anleitung von außerhalb angewiesen ist. Das wiederum bringt oft längere Wartezeiten mit sich und dann herrschen meist auch hier unterschiedliche Meinungen zu unterschiedlichen Hilfestrategien, sodass man sich manchmal eher verunsichert als bestärkt fühlt.

Das Thema Zeit ist in sämtlichen sozialen Berufsgruppen ein großes Thema und erschreckender Weise ist festzustellen, dass es noch immer mehr Probleme, Verhaltensauffälligkeiten und komplexe Störungen gibt, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen, für die das System weder ausreichend Kapazitäten noch Kompetenzen hat. Es werden immer spezifischere und individuellere Angebote benötigt und geschulte Professionelle sind auf immer mehr Fortbildungsangebote und Spezialisierungen angewiesen, um aufkommende Problemsituationen lösen und händeln zu können und sich dabei weiterhin selbst als Hilfe zu erleben.

Auch meine Wartezeit für Psychotherapieplätze ist ellenlang und ich möchte gar nicht erwähnen, dass ca. 150 Namen auf einer Art Warteliste stehen und darauf hoffen, irgendwann einen Anruf zu bekommen und zu hören, dass ein Therapieplatz frei wurde. Bestenfalls am Nachmittag zum Wunschtermin. Utopisch. Also mache auch ich Schadensbegrenzung und versuche kurzfristige Lösungen zu finden, versuche weit und groß zu denken und alle Möglichkeiten im System auszuschöpfen Kollegen mit ins Boot zu holen und anderweitige Hilfen zu installieren, wenn ich sie in der Praxis nicht bieten kann. Das Drama Psychotherapieorganisation und Versorgung ist ein anders Thema, was ein ganzes Heft dieser Art füllen könnte.

Aber berufsübergreifend und in einem multiprofessionellen Team zu arbeiten ist auch nicht immer nur hilfreich und unkompliziert, denn Konkurrenz unter Kollegen lässt sich manchmal nicht vermeiden. Es ist selbstverständlich, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Denkansätze und Lösungsstrategien haben, in manchen Fällen geht es dann irgendwann aber nicht mehr um die beste oder sinnvollste Lösung für die Hilfebedürftigen, sondern um gewinnen und Recht haben. Weil wir menschlich sind, holen wir uns in seltenen Fällen auf die Art und Weise Wertschätzung, weil es davon auch einfach viel zu wenig gibt und meist keiner Zeit hat, zu erwähnen, dass etwas wirklich gut gelaufen ist. Meist wird es nur sehr laut und deutlich, wenn irgendwo was übersehen wurde und es schief gelaufen ist.

Sicherlich gibt es unter den Sozialberuflern auch mehr und weniger motivierte Menschen, zumal jeder für sich Engagement anderes definiert, was auch in Ordnung ist. Mancher blüht im Chaos auf und läuft zu Höchstform auf, wächst mit Herausforderungen. Anderen ist es schnell unangenehm, wenn täglich neue Herausforderungen auf einen zukommen und wünschten sich, ein anderes Berufsfeld gewählt zu haben. Das ist völlig normal und vermutlich in jedem Berufsfeld zu sehen. Wichtig finde ich, dass im sozialen Beruf nicht nur diejenigen gewertschätzt werden dürfen, die mehr tun als das, für das sie bezahlt werden, was oft der Fall ist. Auf sich aufzupassen, sich abzugrenzen und die Möglichkeit zu haben, zu sagen, dass man gerade nicht kann, muss gegeben sein. Und mal ganz abgesehen davon kann es nicht sein, dass ein System nur funktioniert, wenn alle mehr tun als das, wofür sie bezahlt werden.

Dazu kommt, dass jedem von uns bestimmte Dinge mehr liegen als andere. Ich behandle zum Beispiel lieber Jugendliche als Kinder, das fällt mir einfach leichter. Und damit gehe ich offen um. Das bedeutet nicht, dass keine Kinder zu mir kommen können, aber ich weiß, dass ich nicht gut arbeite, wenn ich am Tag mehr Kinder als Jugendliche sehe. Meine Arbeit ist besser, wenn der Jugendanteil überwiegt, warum sollte ich nicht auf meine Ressourcen achten und das Bestmögliche herausholen? Neben zu hoher Nachfrage wäre dann eingeschränkte Hilfe meinerseits ein weiterer Missstand. Einige meiner Kollegen mögen es deutlich lieber, mit Kindern zu arbeiten. Prima, ggf. helfen wir uns gegenseitig. Für jeden noch so nervigen Job gibt es jemanden, der ihn gerne macht, und das als seine Berufung ansieht. Ziel ist es, sich so zu ergänzen, dass man sich gegenseitig unterstützen kann. Wenn ich mich täglich mit unfassbar viel Schreibkram rumschlagen müsste, dann würde der Job mir nur halb so viel Spaß machen. Also habe ich eine Mitarbeiterin, die viel Schreibkram für mich übernimmt. Sie macht das gerne und ich habe mehr Zeit, Patienten zu behandeln oder tatsächlich mal Freizeit zu haben.

Jede Familie, jedes Kind hat unterschiedliche Bedürfnisse und legt Wert auf verschiedene Dinge. Wir müssen also nicht nur unsere eigenen Ressourcen abstimmen, sondern auch noch auf die individuellen Belange des Gegenübers eingehen, die sich in einer bunten Vielfalt unterscheiden. Das ist nicht immer einfach und verlangt zusätzliches Fingerspitzengefühl, zumal tatsächliche Bedürfnisse oft gar nicht auf den ersten Blick erkennbar sind und sich erst während der Arbeit und im Prozess ergeben, der nicht stattfinden kann, wenn ich nicht genügend Zeit habe und mich gedanklich nicht einlassen kann.

Einige Familien gehen oft unter und erkennen vielleicht auch zunächst gar nicht, dass sie anderweitige Unterstützung benötigen. Manche trauen sich auch nicht anzusprechen, dass etwas nicht gut läuft, aus Sorge, als inkompetent und unfähig abgestempelt zu werden. Und so harren sie aus und warten, bis es gar nicht mehr geht. Solche Fälle stehen öfter auf meiner Matte und dann muss schnell eine Lösung her, die am besten sofort greift. Tja, und leider gibt es die auch oft nicht. Manchmal wünsche ich mir einen Zauberstab.

Es gibt auch die gegenteilige Situation, in der Familien unglaubliche Hilfsangebote haben und dadurch in der Woche so viele Termine haben, dass sie sich eher eine Auszeit wünschen, als mehr Unterstützung in Terminform. Kinder müssen beispielsweise einmal in der Woche zum Psychotherapeuten gehen, um in der Spieltherapie Dinge aufzuarbeiten, einmal in der Woche einen Termin bei der Ergotherapie haben, um die zurückgebliebene motorische Entwicklung zu fördern und die Logopädin kümmert sich einmal wöchentlich um das Sprachdefizit. Der Psychiater übernimmt die regelmäßige medikamentöse Betreuung und reguläre Arzttermine und andere Dinge, wie Friseurtermine, fallen auch noch weiter an. Dann gibt es noch die Elterngruppe des Trägers und die Selbsthilfegruppe für Pflegekinder. Und das Kind soll sich dann bitte noch mit Freunden verabreden und einem Hobby, bestenfalls in einem Verein, nachgehen. Und dann müssen noch HPGs und regelmäßige Termine mit dem Jugendamt eingehalten werden, der Vormund kommt vorbei und ggf. finden auch noch regelmäßige Kontakte zu den leiblichen Eltern statt, die dem Kind in manchen Fällen nur teilweise gut tun. Bei den ganzen Terminen bleibt kaum Raum für das Konstrukt Familie und kaum Zeit, die gemeinsam zu Hause verbracht werden kann, was für Kinder oft sehr wichtig ist. Zur Ruhe kommen und sich zu Hause fühlen.

Das liegt vermutlich daran, dass die Hilfepläne aller Organisationen unterschiedlich aussehen und unterschiedliche Schwerpunkte setzen, und zudem finanziell unterschiedlich aufgestellt sind. Und manchmal liegt es auch schlichtweg daran, dass einige Menschen einfach „lauter schreien“ als andere und von ihrer Persönlichkeit her dominanter aufgestellt sind. Wenn man auch einfach schon Erfahrung hat und weiß, worauf man am besten achten muss oder eine kleine Affine zur Recherche hat und die richtigen Menschen kennt, dann weiß man ggf. besser, in welchen Rubriken man mit welcher Vehemenz welche Hilfen beantragen muss und durchgesetzt bekommt, während andere Bezugspersonen oder Mitarbeiter weder von Möglichkeiten wissen, noch über die Kräfte verfügen, sich gegen Systeme zu wehren und benötigte Leistungen ggf. sogar einzuklagen.

Das System ist leider wie es ist, und vermutlich wird es in Zukunft keine bahnbrechenden Veränderungen geben, da weit und frei denken im System nicht vorgesehen ist und viel Raum für Flexibilität einfach nicht besteht. Zumal es mir schwer fällt, zu definieren, wie ein verbessertes Modell aussehen könnte. Denn egal wie viele Hilfen, wie viele Gelder man zur Verfügung hätte, man würde trotzdem nicht allen helfen können und es würde weiterhin nicht reichen.

Hinzu kommt, dass wir alle Menschen sind und menschlich handeln, menschlich reagieren und menschliche Entscheidungen treffen. Das heißt, unsere eigene Verfassung, unser Urteilsvermögen und unsere involvierten Emotionen spielen immer eine Rolle und beeinflussen unser Handeln. Zum einen eine Ressource, manchmal sicherlich auch ein Hindernis.

Eine gute Grundvoraussetzung, die ich täglich erlebe und auch bei anderen Berufsgruppen sehr schätze, ist ein hohes Maß an Empathie und Verständnis und eine wohlwollende Grundhaltung. Davon ausgehend, dass alle ihr Bestes geben und so viel tun, wie sie können, ermöglicht eine produktive Zusammenarbeit. Auch wenn ich manche Dinge anders angehen und anders lösen würde. 

Mein Ansatz muss nicht der meiner Kollegen sein. Und meine beste Lösung muss auch nicht meinen Patienten gefallen. Am besten lässt man das Ego vor der Tür, denn interne Machtkämpfe und Besserwissereien, Belehrungen und Unterstellungen hemmen den Prozess und schränken die Ressourcen ein, von denen wir alle sowieso schon zu wenig haben. Und Hauptkriterium: es geht um die Kinder und nicht um uns Erwachsene. 

Auch bei Hilfen sollte diesbezüglich immer abgewägt werden, wen die Hilfe betrifft und wer sie am dringendsten benötigt. Und diesbezüglich müssen vielleicht unschöne Entscheidungen getroffen werden, weil nun mal alles auf einmal nicht geht. Aber Offenheit und Erklärungen können da helfen.

So muss ich mich zum Beispiel manchmal entscheiden, ein akutes Trauma zwischen zu schieben, obwohl ein komplex traumarisiertes Kind als nächstes den freien Platz bekommen sollte und schon einige Monate gewartet hat. Unfair. Aber: ein frisches Monotrauma ist schnell und gut zu behandeln und eine Chronifizierung oder Symptommulitiplikation kann verhindert werden. Die Behandlung einer komplexen Störung bedarf einer langen Zeit und besteht meist schon seit langem, sodass sich bereits ein Weg gefunden hat, vorerst damit zu leben. Das klingt unfair, aber besser irgendwo anfangen und sinnvoll abwägen, als lange nachdenken und nichts tun. Es geht auch darum, dass Entscheidungen getroffen werden und man anfängt. Es wird immer jemanden geben, der sich vernachlässigt und zu kurz gekommen fühlt, egal wie sehr man sich anstrengt. Wichtig für meine Arbeit ist, dass ich sinnvoll entscheiden kann und einen weiten Blick habe, der über die aktuelle Situation hinaus geht. Absprachen und Beratung mit Kollegen und Supervisorin helfen mir, mich weiterhin klar positionieren zu können und meinen Standpunkt in all dem Wusel nicht zu verlieren.

Eine authentische Haltung und Ehrlichkeit sind Grundlage für tragfähige und arbeitsfähige Beziehungen, die ganz viel in Bewegung bringen können. Stehen zu dem was man kann und angeben, wenn Grenzen erreicht sind und etwas nicht in die eigene Professionalität oder ins eigene Fachwissen passt. Nicht-Wissen ist keine Schande, so-tun-als-ob und es vergeigen schon. Wenn Bezugspersonen sich aufgehoben fühlen und man vielleicht gerade keine Lösung parat hat, aber kurz zuhören kann, Verständnis zeigt und ermutigt, nicht aufzugeben, dass man auf dem richtigen Weg ist, dann ist schon viel gewonnen. Erziehungsbeauftragte können aufhören an sich zu zweifeln und spüren, dass sie in der größten Not trotzdem nicht alleine sind, dass ihre Arbeit wertgeschätzt wird und wir alle nur Menschen sind, die schlichtweg menschlich reagieren und versuchen Ihr Bestes zu geben.

Unser Hamsterrad bietet keine Möglichkeit, alles umzuwerfen und etwas Neues zu erschaffen, dabei sind zu viele Instanzen ineinander verknüpft und aufeinander aufgebaut. Aber immer wieder sich selbst und seine Arbeit zu hinterfragen und kurz innezuhalten, ist sicherlich eine gute Grundvoraussetzung. Zu resümieren, ob das, was als nächstes geschieht, zielführend und sinnvoll ist oder nur als nächstes nach Bearbeitung schreit. Eine Grundvoraussetzung, die durch regelmäßige Absprachen gewährleistet sein sollte. Wenn wir schon nicht das System verändern können, dann sollten wir zumindest miteinander reden, berufsübergreifend und brainstormen und uns austauschen, was das Zeug hält. Sollten uns gegenseitig inspirieren und motivieren. 

Arbeitskreise und runde Tische, von denen ich großer Fan bin, knüpfen ein phantastisches Netzwerk und zeigen Ressourcen an Stellen auf, an denen man sie nicht vermutet hätte. Viele Professionen zu kennen, auf kurzen Dienstwegen Fragen stellen zu können, um nicht selber erst ewig recherchieren zu müssen, verschafft Zeit und ein Hintergrundwissen, das man selber alleine nie bekommen kann. Das sollten wir bestmöglich nutzen, ohne Klischees und Vorurteile anderer Berufsgruppen gegenüber. Alle an einen Tisch zu holen und Ressourcen abzufragen kann neue Perspektiven eröffnen und uns zumindest die Möglichkeiten aufzeigen, die wir haben. Und oft sind überraschende Resultate dabei. Sich regelmäßig fortzubilden, um neue Ideen und neue Perspektiven zu lernen, kann helfen umzudenken und Nischen zu entdecken, die ggf. ungenutzt sind.

An Stellen, an denen es nicht anders geht, wird man um Druck nicht herum kommen. Wertschätzung und Verständnis sind in vielen Fällen hilfreich und wünschenswert, aber manche Dinge müssen einfach in bestimmten Zeitfenstern bearbeitet werden und manchmal ist keine andere Lösung als die teuerste sinnvoll. Dann ist das so. Und auch wenn es um Unprofessionalität geht, bin ich der Meinung, dass Druck und eine angemessene Rückmeldung angebracht sind.

Tatsache ist, dass traumatisierte Kinder, vor allem frühkindlich traumatisierte und dadurch oft bindungsgestörte Kinder, eine spezielle und individuelle Förderung und Unterstützung benötigen, die im Regelplan oft nicht vorgesehen ist. Fehlende Mittel, eingeschränkte Gelder, eine hohe Auslastung des Systems und oft auch mangelndes Wissen bezüglich Traumatisierungen und deren Folgen machen viele Prozesse langwierig und kompliziert, währenddessen das Leben der Kinder allerdings weiter geht.

Wenn etwas helfen kann, dann unser aller Ressourcen zu erkennen und zu nutzen und an den richtigen Mann bzw. an das richtige Kind zu bringen. Dann können wir vielleicht nach wie vor nicht das System ändern, aber es zumindest bestmöglich für die Patienten, deren Bezugspersonen und deren Bedürfnisse nutzen und das System, auch wenn es unflexibel ist, auf sein Optimum bringen, es wunderbar polieren und bis aufs äußerste dehnen. Soweit es geht. Etwas anderes wird uns nicht übrig bleiben.

erschienen im PATEN, Ausgabe 01/2019

BEHANDLUNG VON TRAUMATA... DIE KÖNIGSKLASSE

ÜBER BEHANDLUNG UND UMGANG MIT TRAUMATISIERTEN KINDERN
von Eva Schoofs

In den letzten zwei Artikeln ging es um unterschiedliche Arten von Traumatisierungen, hier soll es nun um die Behandlung gehen. 

Traumatisierungen waren zu Beginn meiner Psychotherapeutenkarriere das Störungsbild, vor dem ich den größten Respekt hatte. Ich hatte Angst, die Patienten zu retraumatisieren, hatte Angst, dass ich sie an Dinge erinnern würde, sodass es Ihnen nachher schlechter anstelle von besser gehen würde und ich hatte Angst, jemand könnte in einen dissoziativen Zustand geraten, in einen Zustand, in dem er nicht mehr ansprechbar sein könnte und das Gefühl vom traumatischen Ereignis wieder erleben würde. Es gibt dazu einige schreckliche Erzählungen und äußerst abschreckende Situationen in Literatur und den Medien.

Heute weiß ich mehr, Gott sei Dank. Die Unsicherheiten haben dazu geführt, dass ich das dringende Bedürfnis hatte, mich fortzubilden und letztendlich ist eine ganze Traumatherapieausbildung daraus geworden. Zum Glück. Mittlerweile lehre ich sogar auf dem Gebiet.

Ich erinnere mich noch genau an meine erste Patientin mit einer Traumatisierung, wobei es sich dabei direkt um jahrelangen Missbrauch inklusive Videoaufnahmen und Verkauf der Tapes handelte und ich fühlte mich als behandelnde Therapeutin so hilflos. Irgendwie habe ich es trotzdem geschafft, zu stabilisieren und zu helfen. Einer meiner Dozenten hatte früher immer gesagt, es sei egal, wie gut man Methoden könne, Psychotherapie funktioniere zu 80% über Beziehung, wenn man das hinkriege, sei man schon erfolgreich. Ein weiser Mann, ich habe mich darangehalten. 

Heute arbeite ich nach Standardverfahren und es gibt kaum eine Geschichte, die ich noch nicht gehört habe oder bei denen ich nicht wüsste, wie ich sie behandeln kann. Ich arbeite sogar gerne mit Traumata, am liebsten mit Mono-Traumata, weil man praktisch bei der Heilung zusehen kann.

Letztendlich funktionieren sämtliche Methoden der Traumatherapie ähnlich. Man muss als Therapeut einfach die finden, mir der man selber am besten arbeiten kann. Um sich einen Verarbeitungsprozess in einer Traumatherapie besser vorstellen zu können, folgendes Beispiel: man stelle sich eine kleine Kiste vor, ein Teil unseres Gehirns, in dem Erinnerungen abgespeichert werden. Unser traumatisches Ereignis wird durch ein großes Tuch dargestellt, was wir versuchen in die kleine Kiste zu stopfen: Deckel auf, Tuch rein knüllen, Deckel versuchen wieder drauf zu drücken. Das Tuch aber guckt an den Seiten aus der Kiste heraus, der Deckel fällt immer wieder ab und immer wieder wird das zu voluminöse Tuch herausquellen. Sinnbild eines Traumas. Etwas, was nicht kontrollierbar ist und ständig wieder zum Vorschein kommt, nicht ordentlich verpackt ist. 

Traumatherapie bedeutet nun, dass wir das Tuch herausnehmen, einmal ausbreiten und genau ansehen, um es dann schön ordentlich und vernünftig zusammen zu falten und in die Kiste zu räumen. Gefaltet passt es perfekt und der Deckel kann problemlos geschlossen werden – Trauma integriert. 

Im Gehirn läuft es etwas komplexer ab, möchte ich behaupten, werde aber versuchen, auch diesen Prozess mit meinen Worten und Ideen wieder zu geben…

Wie schon im ersten Artikel beschrieben, schaltet sich ein Teil unseres Gehirns während einer maximalen Belastungssituation aus und das Erlebte kann nicht den normalen Prozessen entsprechend in unsere Erinnerung eingefügt werden. Hinzukommt, dass unsere rechte und linke Gehirnhälfte in diesen Momenten nicht mehr richtig zusammenarbeiten und es entsteht eine Art Traumaknoten in diesem riesigen Netz, was in unserem Hirn existiert. Kurze, übersichtliche, belastende Situationen geben kleine Trauma-Knoten, an die unser Hirn alle zugehörigen Emotionen und Assoziationen knüpft (mich beißt ein Hund – es entsteht ein Traumaknoten, Angst vor Hunden hängt mit in meinem Knoten, vielleicht auch Angst und Vermeidung von dem Ort, an dem es passiert ist. Wenn zufällig zeitlich eine Kirchenglocke geläutet hat, könnte es sein, dass sich auch dieses Geräusch in den Knoten einfügt und ich zukünftig affektiv mit erhöhtem Puls reagiere, wenn eine Kirchenglocke schellt. Wenn der Hund dann dazu auch noch speziell gerochen hat, wird ggf. auch der Geruch mit dem Knoten verknüpft…) Das wäre dann schon ein ordentlicher Knoten, indem einiges festsitzt.

Man ahnt, wie viel größer und verzwickter ein Knoten wird, wenn es sich um längere und intensivere Ereignisse in Folge handelt. Schwerere Traumatisierungen erzeugen komplexere und größere Knoten. Je jünger der Mensch, desto übersichtlicher das bestehende Netz im Gehirn. Je älter wir werden, um so mehr lernen wir bestenfalls kennen und bilden für alles Strukturen in unserem Gehirn. Je älter also eine Person, umso mehr dazugehörige Assoziationen und Emotionen. Leider, oder manchmal auch zum Glück, kann hier auch nach Intelligenz unterschieden werden, denn bei weniger intelligenten Menschen scheinen eher kleinere Knoten zu entstehen. Je intelligenter die Menschen sind, desto komplexer und komplizierter der Knoten. 

Und je jünger die Person, die vielen belastenden Situationen ausgesetzt ist, umso größer die Gefahr, dass eine komplexe Störung entsteht, aber dazu habe ich im zweiten Artikel schon einiges gesagt.

Eine Grundvoraussetzung vor einer Traumabehandlung ist jedoch erst mal eine Stabilisierung und Ressourcenaktivierung. Ich muss als Therapeut sicher gehen können, dass der Patient Möglichkeiten hat, sich affektiv zu regulieren. Dass er Kontrolle über seine Gedanken behalten kann und in der Lage ist, sich zu helfen, sollten Erinnerungen aufkommen, die ihn mental überschwemmen. Dass er seine Stärken kennt und darauf zurückgreifen kann. Imaginationsübungen wie „der sichere Ort“ nach Louise Reddemann oder „der innere Garten“ nach Michaela Huber sind bewährte Übungen, die ich zuvor mit Patienten übe. Die Tresorübung kann helfen sich zu distanzieren und Gedanken „wegzuschließen“. Außerdem werden Ideen zum Gedankenstop ausprobiert, die der Patient anwenden kann und auch üben muss. Diesbezüglich habe ich ein YouTube-Video gedreht, was auf meinem Kanal zu sehen ist, sodass alle Patienten und Eltern ständig Zugriff auf Methoden haben, wie man sich von Grübelgedanken oder „sich aufdrängenden Gedanken“ distanzieren kann. Erst, wenn sicher gewährleistet ist, dass der Patient stabile Methoden zur Affektregulation hat, Ansprechpartner hat, sich selbst zu helfen weiß und absprachefähig ist, wird mit einer Traumakonfrontation begonnen. Dies stellt einen äußeren, sicheren Rahmen her. 

Bei komplexen Traumatisierungen liegt da oft der Knackpunkt. Die Patienten sind meist instabil und können Imaginationsübungen und Stabilisierungsübungen nicht gut für sich nutzen, weil sie gute und sichere Gefühle kaum kennen und deshalb nicht wirklich gut zulassen können. Sie haben keinen Zugriff auf ihre Stärken und erleben schnell Kontrollverluste und Ohnmachtsgefühle. Keine gute Basis, um an Knoten zu hantieren, die zudem verzwickt komplex und umfassend sind. Ein Grund, weshalb die Behandlung von komplexen und vor allem frühkindlichen komplexen Traumatisierungen sich als schwieriger darstellt.

Bei einer regulären Traumakonfrontation nimmt man also den Knoten, öffnet die Erinnerung und spürt noch einmal in die Emotionen und Affekte hinein, Aktualisierung einer Situation wird dies genannt. Wenn wir uns erinnern, dann ist diese Situation nach ganz kurzer Zeit für ca. 60 Minuten ‚geöffnet’ und somit veränderungsfähig. Wovor ich als Therapeutin am Anfang Angst hatte, dass sich solche eine Situation „öffnen“ könnte, war völlig überflüssig, da Traumatisierte meist von alleine ständig an das Trauma erinnert werden. Nehmen wir das Beispiel vom Hundebiss: ich erinnere mich, wenn ich an der Stelle vorbeikomme, an der es passiert ist, wenn ich einen Hund sehe, wenn Kirchenglocken läuten und wenn es nach Hund riecht… Einige Trigger, die mich ständige an das Ereignis denken lassen und die Situation aktualisieren, also „öffnen“. Wenn ich allerdings alleine damit bin, und sich die Situation nach ca. 60 Minuten wieder unbehandelt schließt, wird es auf keinen Fall besser. Ganz im Gegenteil, die Chance ist groß, dass sich eine Situation manifestiert. So kommt immer intensiver werdendes Vermeidungsverhalten z.B. zustande. Also bedeutet das auch, dass es nicht hilft, unzählige Male darüber zu reden. Man muss imaginäre Bewältigungsstrategien entwickeln, und das bedeutet Traumatherapie.

Wir können leider nicht die Vergangenheit durch eine Traumatherapie verändern, aber wir können die emotionale und affektive Bewertung des Ereignisses verändern. Wir erinnern uns also nach wie vor, was passiert ist, können dies jedoch ohne emotional und affektiv darauf zu reagieren. Nach dem Hundebiss kann ich also wieder die Straße entlang gehen, ohne zu schwitzen, ich kann an Hunden vorbei gehen, ohne rasenden Herzschlag zu haben, kann Kirchenglocken hören, ohne Panik zu bekommen. 

Um dorthin zu gelangen, erinnere ich mich also und durch die Aktivierung und das Durcharbeiten, Beschreiben der Situation, einfügen von Ressourcen und Überlebensmustern durch den Therapeuten, wird der Knoten angegangen und gelöst, alle Enden werden betrachtet und so lange ‚durchgekaut‘, bis die Belastung sinkt und das Ereignis nicht mehr als belastend empfunden wird. Bis aus einer Belastung von 10 irgendwann bestenfalls eine 0 geworden ist.

Es gibt ganz unterschiedliche Methoden, mit denen gearbeitet wird: EMDR nach Francine Shapiro, Gestalttherapie, Hypnose, Psychodrama, Schematherapie, somatic Experiencing nach Levine, NET, behaviorale kognitive Therapie, IRRT, TRIMB, usw. Viele Menschen habe sich großartige Methoden ausgedacht, die wunderbar funktionieren und letztendlich aber eigentlich alle auf dieselbe Art funktionieren: Situation aktualisieren, den schlimmsten Moment herausfinden und via Durcharbeitung verarbeiten und emotional neu bewerten.

Mein ‚tollstes Erlebnis‘, wenn man es denn so nennen kann, war eine Jugendliche, der es unglaublich schlecht ging, die aber noch nicht einmal sagen konnte, dass sie vergewaltigt wurde. Das ahnte ich nur. Sie war so in sich verschlossen und wenig schwingungsfähig, dass ich tatsächlich nicht gedacht hätte, dass ich ihr helfen könnte. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit ihr machen sollte und dachte nur, dass dieser Zustand sich ganz schnell verändern muss. Nach 2 Sitzungen mit Therapie am traumatischen Ereignis, ohne zu sagen was es war, blind sozusagen, war sie ein verändertes Mädchen, hatte deutlich an Lebensqualität zurückgewonnen und konnte sich wieder auf sich konzentrieren. Ihr Gesicht wirkte weniger starr und sie spürte sich selber wieder. Trigger und Zukunft konnten anschließend in je einer Stunde bearbeitet werden und im Anschluss traf sie unerwartet auf einer Party auf den Täter. Und hat es großartig gemeistert, ihm nämlich selbstbewusst die kalte Schulter gezeigt und trotzdem einen riesen Spaß auf der Party gehabt. „Das macht der nie wieder mit mir!“ hat sie danach zu mir gesagt. Yes!

Bei der Behandlung von komplexen Traumatisierungen sieht es anders aus und da gehen die Meinungen der Professionellen auseinander. Manche vertreten die Meinung, man dürfe nur Traumatherapie machen, wenn Patienten lange Zeit stabil gewesen sind. Andere sagen, es gehe den Menschen sowieso schlecht, schlimmer könne es kaum werden, also lieber früher als später anfangen. Der wichtigste Anteil in der Behandlung von Komplex-Traumatisierten ist meist gar nicht die Arbeit des Therapeuten, sondern die des Umfelds. Hier beziehe ich mich vor allem auf frühkindliche, komplexe Traumatisierungen. Mit einer Stunde in der Woche ist therapeutisch kaum ein Fuß in die Tür zu bekommen, für mehr hat das System allerdings keine Kapazität. Hauptaufgabe liegt also bei den begleitenden Personen. Bei Eltern, Pflegeeltern und Erziehern. Und das ist wahrlich die Königsklasse, denn nichts ist komplizierter und anstrengender und fordert mehr eigene Kontrolle, Durchhaltevermögen und guten Willen als die Begleitung und der Umgang mit komplex traumatisierten Kindern. 

Zunächst ist es sinnvoll, dass man ein gemeinsames Verstehensmodell entwickelt. Dabei gibt es schon oft Probleme, denn in den seltensten Fällen wissen wir genau, was passiert ist. Wir können uns manche Dinge denken anhand der Verhaltensweisen der Kinder, können Schlüsse ziehen, was gewesen sein könnte, aber kaum einmal geben uns die Kinder die Informationen, die wir bräuchten oder gerne hätten. Akten sind oft unvollständig, Personen in zuständigen Ämtern haben gewechselt und viele Dinge sind schlichtweg nicht bekannt. Weil keiner darüber redet. Wichtig ist, dass Begleiter des Kindes lernen, jedes Verhalten mit der psycho-traumatologischen Brille zu sehen. Das bedeutet, dass sie die Welt mit den Augen des Kindes sehen, erleben und nachvollziehen müssen, was das Kind erlebt. Das ist sehr viel verlangt, denn jemand, der bei dem Schellen einer Türe niemals Todesangst erlebt hat, wird schwer nachvollziehen können, wenn Kinder genau dann ausflippen: wenn z.B. Besuch kommt und es an der Tür schellt. Das Nachvollziehen und Hineinversetzen ist aber unumgänglich, wenn man es schaffen möchte, dem Kind zu helfen und auf einen gesunden Weg zu bringen. Denn auszuflippen, zu verbieten und zu bestrafen bringt rein gar nichts. Beim Kind wurde Todesangst ausgelöst, eine Strafe z.B. wird ihm im Anschluss zum einen unsinnig vorkommen, zum anderen kaum interessieren, alles ist besser als Todesangst. Bestrafung greift also schon mal nicht. Keine schöne Wahrheit für uns Verhaltenstherapeuten, die gerne Fehlverhalten durch Verstärker regulieren. Auch ein Satz wie „das ist nur die Klingel, ich habe dir doch gesagt, dass du deshalb keine Angst haben musst!“ ist wenig hilfreich. Davon geht die Angst nämlich nicht weg. 

In den Augen des Kindes bedeutet jedes Fehlverhalten ein Kontrollverlust. Alles, was es verbockt, wofür es einen strafenden Blick gibt, löst direkt absoluten Alarm aus, weil schon sehr früh gespeichert wurde, dass auf Fehlverhalten eine Konsequenz folgt: Schläge, Tritte, Wegsperren, Ignoranz, Misshandlung, Missbrauch… Wenn also ein Turnbeutel vergessen wird, kann es sein, dass das Kind noch im Sportunterricht ausflippt. Oder in der Stunde danach. Oder am Nachmittag zu Hause. Aus einer Not heraus! Nicht, um zu ärgern, um auszuflippen, nicht weil es schlecht erzogen wurde, weil es die neue Situation nicht zu schätzen weiß. Einzig und allein, weil es in Not ist. Die Muster im Kopf und die Strukturen mit sämtlichen Traumaknoten sitzen so fest, dass es kaum möglich ist, etwas zu verändern. Nicht in einem Jahr. Oder in zwei Jahren. Pflegeeltern sitzen oft bei mir und beklagen sich, dass das Kind jetzt schon ein Jahr bei ihnen sei und immer noch so reagiere. Na klar, wenn es jahrelang zuvor verprügelt wurde und unfassbare Ängste hatte, dann lässt sich das Gehirn nicht so schnell umstrukturieren. Dann lassen sich alte Muster nicht so schnell verändern. Es hat nie gelernt, anders zu reagieren, die Basisfähigkeiten von Vertrauen und Bindung fehlen ggf., wie soll es neues Verhalten so schnell lernen?! Das ist schlichtweg NICHT MÖGLICH! NIE!

Während „gesunde“ Kinder neugierig auf neue Erfahrungen sind, gerne Neues erleben und ihren Horizont von Natur aus gerne erweitern möchten, ist das bei traumatisierten Kindern anders. Diese möchten am liebsten nur Kontrolle haben, wissen was passiert, sind nicht „offen“ für neue Erfahrungen, sondern erleben alles Neue eher als Bedrohung und Kontrollverlust.

Eine Veränderung diesbezüglich kann eventuell eintreten, und das nur vielleicht und mit geringer Wahrscheinlichkeit. Und wenn überhaupt, dann nur nach Jahren. Sie wissen, worauf ich hinauswill. Viellicht wird es auch einfach keine Veränderung geben, weil die Strukturen im Hirn so fest und verhärtet sind, die Muster, die für normale Bindung zuständig wären, einfach schlichtweg fehlen. Und trotzdem ist es dann wichtig, dass jemand da ist, der es mit aushält, der es probiert, der an das Gute in den Kindern glaubt.

Pflegeeltern z.B. meinen es manchmal gut und sagen dem Kind, wie lieb sie es haben, „das hat es ja vorher nicht bekommen“. Die Idee, dass jetzt aber endlich jemand da ist, der das Kind lieb hat und ihm alles bietet, was ihm vorher gefehlt hat, ist für das Kind oft eine Situation, die es nicht aushalten kann. Harmonie kennt es nicht. Bei den Worten „ich hab dich lieb“ erstarren Kinder regelrecht, fühlen sich massiv unwohl und es folgt ein nächster Ausraster. Zu viel Nähe, nie gelernt damit umzugehen, System sagt: kaputt machen und am besten was Altbekanntes aktivieren. Bitte schön. Zimmer kaputt gehauen. Da werden Ihnen dann die netten Worte im Hals stecken bleiben. Gut so, findet das Kind.

Wenn Sie trotzdem das Bedürfnis haben, etwas Nettes zu sagen, müssen Sie kreativ sein, sind gefragt, die netten Worte gut einzubetten, etwas wie „ich weiß, du magst das nicht gerne hören und fühlst dich unwohl, wenn ich so etwas zu dir sage, aber ich wollte dir kurz sagen, dass du ein tolles Kind bist und ich dich sehr gern hab!“

Oft kommen Kinder aus ihren Ursprungsfamilien mit Überzeugungen wie „ich bin weggegeben worden, weil ich böse bin“. Sie werden in jedem Verhalten Bestätigung für ihre Überzeugung suchen und so viel provozieren, bis sich ihre Überzeugung wieder und wieder bestätigen wird. Diese Kinder wollen nie wieder Ohnmacht spüren, nie wieder so einen Kontrollverlust wie den, den sie schon mal aushalten mussten. Also provozieren sie, dass die Erwachsenen sich in ihrer Umgebung genau so verhalten, wie sie es kennen. Sie flippen aus und Erwachsene reagieren darauf. Klingt ähnlich wie ein Teufelskreis.

Dazu kommt, dass komplex traumatisierte Menschen nicht „ein bisschen Stress“ haben können. Sie sind entweder entspannt und fühlen sich sicher, soweit das möglich ist, oder sie erleben maximalen Stress. Dazwischen existiert kein anderes Niveau. 0 oder 10, schwarz oder weiß. Grau wurde nie gelernt. Einfach nicht vorhanden. 

Jede neue Situation erlebt das Kind durch die alte Traumabrille und reagiert mit den alten, tief eingebrannten Erfahrungen. Und dabei verwechselt es oft die Situationen, ohne dies ggf. benennen zu können. Mama ist doof, Mama schlägt, Mama ist gemein. Nicht die Pflegemama, nur die leibliche Mama. Im Stress sind beide dieselbe und das Kind kann nicht mehr unterscheiden. Mama ist Mama. Alle gleich und die Pflegemama muss aushalten können, die Reaktion auf die Misshandlung von damals zu bekommen. Unfair, wo man sich doch so bemüht, dem armen Kind alles zu bieten und jetzt müsste es ihm doch gut gehen. Sie merken, in welche Richtung das geht…

Um damit umgehen zu können, ist es von großer Wichtigkeit, dass Betreuer, Erzieher, Pflegeeltern dieses Verhalten nicht persönlich nehmen. Die Worte sind in den meisten Fällen nicht an sie gerichtet, kommen aus der Vergangenheit oder sind an die Gefühle aus der Vergangenheit geknüpft. Ruhig bleiben ist erstes Gebot. Das Kind schreit mich an, eskaliert, und ich bleibe ruhig. Ich weiß, dass einige Leser lachen werden und sich denken: klar, wie soll das gehen, leicht gesagt als Therapeutin, die das Kind nur einmal in der Woche sieht. Es ist egal, wie schwer es ist und wie viele Kräfte es kosten wird, es gibt keinen anderen Weg. Alles andere ist schlichtweg nicht hilfreich. Ruhig bleiben und sich selber regulieren können ist die einzige Möglichkeit, die Sie haben, wenn Sie möchten, dass sich Ihr Einsatz lohnt. Die einzige Möglichkeit, dass Kinder Emotionsregulation „nachlernen“. Ich füge im Anhang zwei hilfreiche Regulationsstrategien für Bezugspersonen bei, die einfach zu lernen und schnell anzuwenden sind. Ruhig bleiben ist übrigens ein Prinzip, was alle Eltern beherrschen sollten. Es kann nur helfen…

Wenn das Kind auf 180 ist und ich mich selber nicht bremsen kann, schreie, bestrafe, dann verfalle ich genau in das Muster, was es kennt, und ich manifestiere das Verhalten. Wenn ich mich aber umdrehe, tief durchatme und sage „Gerade machst du mich sehr wütend, ich weiß, das willst du nicht, aber ich muss mich jetzt erst einmal beruhigen gehen, damit es mir wieder besser geht“ habe ich eine Möglichkeit zu intervenieren, zu unterbrechen, die Kuh vom Eis zu holen. Kann ich mich nicht regulieren und fahre mit hoch, wägen Kinder oft ab, ob sie dem Gegenüber gewachsen sind, und wenn sie glauben, dass sie mithalten können, dann lassen sie die Situation eskalieren. Weiter und weiter, weil sie es nicht anders können. Das ist häufig bei Müttern der Fall. Bei Vätern fühlen sich Kinder schneller als Verlierer und reagieren deshalb auf Männer oft anders. Nicht weniger heftig, aber nicht so sehr nach außen heraus, eher dissoziativ nach innen. Kinder „beamen“ sich dann oft weg.

Es hilft, die Gefühle des Kindes in erster Instanz laut zu benennen. So bekommt die Amygdala, die in unserem Gehirn unter anderem für die Emotionsregulation zuständig ist, die Mitteilung, dass vom Gegenüber erkannt wurde, dass man wütend ist und reduziert die Reaktion meist schon um 50%.  „Herrje, ich sehe, dass dich gerade etwas furchtbar wütend macht!“ Amygdala bekommt Botschaft: ‚Wut ist angekommen, es kann weniger getobt werden‘ und es ergibt sich ggf. eine Interventionsmöglichkeit. Außerdem sollten Eltern, Pflegeeltern und Erzieher in jeder Situation vermitteln, dass sie davon überzeugt sind, dass das Kind einen guten Kern hat und dass sie an es glauben. Kein Kind kommt böse auf die Welt. Kinder werden schwierig, wenn sie von Erwachsenen nicht gut behandelt werden. Wenn sie immer wieder in große Not kommen und zu viel Angst und Hilflosigkeit erleben müssen.

Weiterhin ist es wichtig, dass Erwachsene die Gefühle der Kinder akzeptieren, nicht verstehen, aber erst mal hinnehmen. Wenn ich erkenne, dass das Kind Angst hatte und deshalb etwas zu seinem Schutz unternommen hat, was mir nicht gefällt, kann ich versuchen, nachzuvollziehen was passiert ist, warum es das getan hat und muss es in erster Linie aber erst mal akzeptieren. 

Beispiel: Pflegekind hatte in der Schule plötzlich unglaublichen Hunger, hat im Kiosk geklaut, wurde von der Polizei heimgebracht. Konflikt zu Hause: „Wie konntest du nur, du hast doch hier alles“, Situation eskaliert! Jetzt aber: Blick durch die Traumabrille des Kindes: Wurde früher von leiblichen Eltern oft nicht versorgt, hat vielleicht tagelang nichts zu essen bekommen, hatte Angst nicht zu überleben! Großer Hunger in der Schule, vielleicht durch erhöhte Aktivität oder vergessenes Pausenbrot, Todesangst! Nicht erkennen können, dass es in einer Stunde zu Hause etwas zu essen gibt, da maximaler Stresspegel von 0 auf 100. Kein logisches Denken mehr möglich: Überleben ist wichtig. Also: Nahrungsbeschaffung, um Überleben zu gewährleisten: Essen klauen. Von Polizei erwischt: Fehlverhalten = Kontrollverlust. „Ich bin weggegeben worden, weil ich böse bin.“ Bestätigt. Zu Hause wütende Pflegeeltern, keine Erklärung und logisches Denken bei maximalem Stress möglich, ausrasten, um Situation zu kontrollieren.

Hier ruhig zu bleiben, das Kind mit dem Satz „Ich weiß, du wolltest das nicht, aber du hattest bestimmt einen guten Grund“ zur Beruhigung aufs Zimmer zu schicken, um etwas zu tun, was ihm gut tut, dabei die kritischen Blicke der Polizisten auszuhalten, die vermutlich denken, dass man völlig bescheuert ist, sich nicht aufzuregen und die Situation am Abend gemeinsam bei einer Tasse Kakao zu besprechen, ist unvorstellbar schwierig. Aber anders eigentlich fast nicht gut zu lösen. Und dann muss gemeinsam überlegt werden, was eine angemessene „wieder-gut-Machung“ sein kann, sodass alle zufrieden sind. Eine Entschuldigung beim Kiosk und das Bezahlen vom eigenen Geld vielleicht, ein besänftigendes Bild für Mama, „Entschuldigung, ich wollte nicht klauen!“

Und dann können Bedingungen für die Zukunft gestellt werden, kann angesprochen werden, was man erwartet und was ggf. Notfallpläne für solche Situationen sein können. Aber nicht, bevor man nicht genügend Verständnis bekundet hat, denn alles, was sich annähernd wie Kritik anhören wird, wird eventuell zu einer weiteren Eskalation führen. Und: im Stressmodus ist das logische Denken ausgeschaltet. Übrigens nicht nur bei traumatisierten Kindern. Es bringt niemals etwas, Konflikte im Erregungsniveau klären zu wollen. Der Anteil im Gehirn zum logischen Denken kann dann schlichtweg nicht aktiviert werden.

Und dann geht es in Zukunft darum, immer mehr Situationen zu vorab zu erkennen, die das Kind triggern könnten und vorausschauend zu handeln, zu deeskalieren und zu agieren, statt zu reagieren. Und wenn Sie sich das zu Herzen nehmen, dann haben sehr viele Kinder eine große Chance nachzulernen, nachzureifen und einen kleinen Anteil Möglichkeit, in Zukunft ein normales Leben führen zu können. Und Sie dürfen sich auf die Schulter klopfen und sich einen Satz, in dem „Held“ vorkommt, ausdenken.

Anleitung zur Selbstberuhigung für Eltern

Folgende Übungen haben sich im Rahmen meiner Arbeit mit Bezugspersonen als äußerst hilfreich herausgestellt:

Die Wuttreppe bei aggressivem Affektstau, aber auch bei anderen Affekten mit Erregung

Stellen sie sich eine Treppe mit zehn Stufen vor. Mit ihrer ganzen Erregung stehen sie oben auf der 10. Stufe, wenn sie ganz unten angekommen sind, werden Sie sich entspannt haben. Beobachten Sie Ihre Erregung und ihren Atem. Gehen sie in ihrer Vorstellung bei jedem Ausatmen eine Stufe nach unten und zählen sie die Stufen dabei. Beobachten Sie, wie jede Stufe sie ein Stückchen mehr zur Ruhe bringt. Wenn sie unten bei 0 angekommen sind, sind Sie entspannt.

Der Atemtrick (bzw. das diaphragmatische Atmen) bei jeder Art von Übererregung

Mit Diaphragma ist nicht das Verhütungsmittel für die Frau gemeint, sondern das Zwerchfell (griech.: diaphragma). Das Zwerchfell ist eine Muskelplatte, die unseren Brustraum nach unten zum Bauchraum abschließt. Es ist nach oben gewölbt. Wenn es bei einer tiefen Einatmung nach unten zum Bauchraum hin gedehnt wird, gibt es einen wohltuenden Druck/Massage auf das Sonnengeflecht (größter Nervenknoten außerhalb des zentralen Nervensystems) und die Bauchorgane aus. Bei einer vertieften Ausatmung dagegen wölbt es sich immer weiter nach oben und zieht den Oberkörper zusammen. Das Zwerchfell ist ein Stressmuskel, d.h., in Zeiten von Anspannung, Hektik und Stress verspannt es sich und blockiert die Bauchatmung. Durch das diaphragmatische Atmen wird es erst nach unten und dann nach oben gedehnt und ist danach wieder elastisch. Jedes Lebewesen mit Lungenatmung hat eine reflexgesteuerte automatisierte Atmung, die völlig anstrengungsfrei verläuft. Durch chronifizierte Anspannung wird die leichte Atmung immer mehr behindert und zu einer Anstrengung, gleichzeitig verändert sich das Gasgemisch in der Lunge zum Negativen hin, sodass auch das Gehirn ungünstiger mit Sauerstoff versorgt wird. Allein dadurch kommt es zu einem Aufschaukeln von Übererregung und negativen Affekten. Das diaphragmatische Atmen, so wie es entwickelt wurde, kommt aus dem Sport – und zwar aus dem “cool-down“, Abspannen nach großer Dauerbelastung für Herz, Kreislauf und Muskulatur. Sorgt innerhalb von wenigen Sekunden für eine Beruhigung des Herzschlages, für ein Absenken des Blutdrucks, für eine körperliche Lockerung und für eine mentale Erholung. Übertragen auf unser traumapsychologisches Thema der Affektregulation, hilft es auch im Kontext leib-seelischer Übererregung für ein schnelles „cool-down“. 

Ablauf:

  • Einmal sehr tief einatmen, möglichst so, dass das Atemvolumen nach unten gelenkt wird – Zwerchfelldehnung
  • 1x sehr tief ausatmen, sodass keine Luft mehr in der Lunge verbleibt (das Zwerchfell schiebt sich automatisch nach oben, eventuell krümmt sich der Oberkörper etwas, wodurch die Entleerung der Lunge unterstützt wird)
  • Danach die Atmung frei geben, sie dem Körper überlassen und beobachten, was er macht.

Unbedingt 2- oder 3-mal ausprobieren und sich dann eine ärgerliche Situation vorstellen. Achten Sie auf körperliche Reaktionen. Sollten Sie keinen Profit davon haben oder sich in ihrer Atmung irritiert fühlen, sollten Sie die Übung nicht anwenden. Ansonsten findet meist ein Cool-down in 10 Sekunden statt. Sie hilft in Akutsituationen jedoch nur, wenn Sie sie vorher geübt und sie verinnerlicht haben. Achten Sie dabei darauf, dass das diaphragmatische Atmen keine Daueratmung ist!

Aus: Verletze Kinderseele – Was Eltern traumatisierten Kinder wissen müssen und wie sie richtig reagieren von Dorothea Weinberg. 

Ein sehr empfehlenswertes Buch für alle, die etwas mit traumatisierten Kindern zu tun haben! Und für alle anderen auch…

erschienen im PATEN, Ausgabe 04/2018

KOMPLEXE TRAUMATISIERUNGEN - EIN SCHRECKEN OHNE ENDE!

EIN EXKURS IN FRÜHKINDLICHE BINDUNG, SEQUENZIELLE TRAUMATA UND DESSEN FOLGEN
von Eva Schoofs

Eine Traumatisierung an sich ist schrecklich und niemandem zu wünschen, es ist anstrengend mit ihr fertig zu werden und damit leben zu können. Da es ja aber bekanntlich bei allem eine Steigerung gibt, schreibe ich heute zu dem Thema komplexe Traumatisierungen, die noch furchtbarer und anstrengender für Betroffene sind, als Mono-Traumata und unglaublich viel Leid mit sich bringen.

Wenn es sich bei einer Traumatisierung nicht um ein einzelnes Ereignis handelt, so wie es in der vorherigen Ausgabe als Mono-Trauma beschrieben wurde, sondern wir mehreren Situationen aneinander gekettet ausgeliefert waren, sequenziell sozusagen, entsteht oft eine komplexe Traumatisierung, sozusagen die Steigerung einer Mono-Traumatisierung.

Hier ist zu unterscheiden, ob es sich dabei um unterschiedliche Traumathemen handelt, die einfach zufällig aufeinander folgten, oder es sich um Traumatisierungen über einen längeren Zeitraum durch dieselbe Person bzw. dieselben Personen handelt. 

Ein Beispiel für unterschiedliche Traumathemen wären ein Autounfall mit schlimmen Verletzungen, der Tod eines Elternteils und ein Feuer im Nachbarhaus, bei dem Menschen starben, die ungünstigerweise zeitnah aufeinander folgten. Letztendlich kann man hier von einer Reihe Mono-Traumata ausgehen, die nur eventuell zu einer komplexen Traumatisierung führen. Ein Beispiel für ein sequentielles Trauma wäre z.B. ein Missbrauch über mehrere Monate durch ein und dieselbe oder mehrere Personen.

Die „normalen Symptome“ einer Traumatisierung sind in der Regel Flashbacks, das Rückerinnern an die Situation, eine angespannten Grundstimmung – einem erhöhten Arousal also – und Vermeidungsstrategien bezüglich der auslösenden Situation des Traumamoments, wie z.B. Vermeidung des Ortes oder Vermeidung von Tätigkeiten, die an den Moment erinnern. Der Unterschied zu komplexen Traumatisierungen sind meist dissoziative Zustände, eine noch höhere Grundanspannung, die auch oft Auswirkungen auf den physischen Körperzustand hat und zusätzlich entstehende Begleitstörungen wie Depressionen, Angststörungen, Essstörungen oder Persönlichkeitsstörungen. Es entsteht also eine unglaublich hohe Belastung als Folge mit vielen Facetten auf unterschiedlichen Bereichen: eingeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten, Amnesien, Persönlichkeitsveränderung.

Dissoziationen sind generell ein Schutzmechanismus, der während der traumatischen Situationen eintritt. Sie helfen, die Situation auszuhalten, indem das Gehirn sich in einen dissoziativen Zustand versetzt, vielleicht in etwa so wie ein anderer Ich-Anteil. Ein Beispiel: wir alle haben unterschiedliche Ego-States = Ich-Zustände: Ich bin Stiefmutter, Partnerin, Therapeutin, Freundin, Kollegin, Schwester, Tochter, usw. Alles unterschiedliche Rollen, unterschiedliche Ego-States von mir. Ich kann entscheiden, wann ich was bin, je nach Situation. Komme ich in eine traumatische Situation, wird das auch ein Ego-State Anteil werden, der bei einem Monotrauma normal mit den anderen Ego-States agiert. Bin ich einem sequenziellen Trauma ausgesetzt, immer und immer wieder, wird dieser Ego-State-Anteil so groß und unerträglich, dass der Kopf das irgendwie kompensieren muss und dann kann man nicht mehr darüber entscheiden, ob jetzt der angemessene Ego-State auftritt oder der Trauma-Ego-State. Leider drängt dieser Trauma-Ego-State sich oft auf, kommt aus dem Nichts hervor oder aber wird durch Trigger – Erinnerungen an die traumatischen Situationen – hervorgerufen. Wenn das Auftreten des Ego-States mit Erinnerungen an die traumatischen Momente einhergeht, entsteht eine Dissoziation, Menschen wirken abwesend, nicht ansprechbar, erleben selber teils Schreckliches währenddessen. 

Es gibt sogar Phänomene, dass Menschen dieselben Bewegungen machen wie in den erlebten traumatischen Momenten, sich weheren oder schreien. In den meisten Fällen erstarren sie und wirken teilnahmslos. Ich bin mir sicher, dass viele dissoziative Zustände bei Kindern als Abdriften oder Konzentrationsstörungen definiert werden oder aber gar nicht wahrgenommen werden. Dissoziative Zustände machen die Betroffenen oft hilflos und bringen sie immer wieder in die Opfer-Rolle.

Der Unterschied in komplexen Traumatisierungen, der zudem prägnant ist, ist, dass es dabei oft um die sequenzielle Schädigung durch Personen geht, was immer zu einer enormen Störung auf der Beziehungsebene führt. Personen schädigen Personen. Oft leider: Erwachsene schädigen Kinder oder Jugendliche.

Eine Sache, die ich nach vielen Jahren Klinik und Praxisarbeit immer wieder erkennen muss: es gibt nichts, was es nicht gibt. Und das ist nicht im positiv überwältigenden Sinn gemeint. Es ist unfassbar brutal, gemein und dunkel gemeint, mit Schikanen, die man sich nicht vorstellen kann, Erniedrigungen, die niemand aushalten könnte und mit Demütigungen, die Menschenseelen kaputt machen…

Schon im Mutterleib können Kinder eine Traumatisierung erleiden. Wenn eine Schwangere Gewalt erlebt, enorm gestresst ist, sich emotional nicht um den Fötus im Bauch kümmern kann, dann hat schon das Auswirkungen auf den Fötus. Bei enormem Stress oder Gewalt verhärtet sich die Bauchdecke der Schwangeren und der Fötus erlebt schon vor der Geburt eigene Anteile von Angst und Stress und kommt mit diesen Gefühlen auf die Welt. Schreit dann vielleicht viel, braucht viel Sicherheit und Rückmeldung, die die Mutter eventuell nicht in der Lage ist zu geben, und schon passiert da etwas auf der Beziehungsebene, was Konsequenzen für immer haben wird… Was für immer die Entwicklung bestimmen wird, was für immer Konflikte mit sich bringen wird.

Kinder, die von Anfang an mit viel Stress und unter besonders schlechten Bedingungen aufwachsen, sind gefährdet. Zum einen für eine Traumatisierung und zum anderen, daraus entstehend, für eine Bindungsstörung. Alleingelassene Säuglinge erleben oft überwältigende Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit oder sogar Todesangst, sodass schon früh Traumatisierungen entstehen können.

Ein Beispiel: eine depressive Mutter ist mit ihrem jungen Baby überfordert. Das Baby gibt Signale, sucht nach Aufmerksamkeit, die Mutter kann aufgrund der Erkrankung aber gerade nicht reagieren und starrt das Kind nur an. In der Regel geben Babys Laute von sich, Bezugspersonen reagieren darauf, es entsteht eine Kommunikation. Dadurch entstehen Orientierung und Bindung für das Kind. Es weiß, dass es in Sicherheit ist. Kommt keine Rückmeldung, ist das Baby verunsichert, es startet mehrere Versuche und zeigt dann verzweifeltes Verhalten, fängt an zu schreien und ist deutlich irritiert. Passiert so etwas öfter, ist das Grundbedürfnis nach Orientierung und Kontrolle und Bindung gefährdet und Kinder entwickeln Verhaltensauffälligkeiten. Sie schreien zum Beispiel, um zumindest durch negatives Verhalten auf sich aufmerksam zu machen. Leider hat dies schon direkt Auswirkungen auf die Entwicklung im Gehirn und bringt schnell negative Folgen mit sich (auch Still-Face-Experiment auf YouTube/ Dr. Edward Tronick).

Man kann sich das bezüglich der Entwicklung im Hirn so vorstellen, dass wir alle mit einer bestimmten Basis von Lernerfahrungen anfangen, die alle erfüllt sein müssen, sodass sich aus jedem Anteil neue Lernerfahrungen und Entwicklungsschritte bilden können. Ein in sich zusammenhängendes Netz aus Erfahrungen, Lernanteilen und Können, was ständig aufeinander aufbaut. Wenn jedoch in einigen Arealen Lücken entstehen, beispielsweise durch ausbleibende Wertschätzung und Spiegelung von Reaktionen der Mutter eines Säuglings (z.B. aufgrund einer Depression wie oben beschrieben), dann kann das Kind sich nicht mit allen Möglichkeiten entwickeln, weil einfach manche Anteile nicht erlernt bzw. erfüllt werden und die Defizite in den „unteren“ sehr frühkindlichen Bereichen irgendwann Auffälligkeiten mit sich bringen werden.

Vergleichsweise kann man sich ein Beispiel aus der Mathematik vorstellen: wenn ich von Anfang an nicht richtig beigebracht bekomme, wie Zahlenmengen zusammenhängen und funktionieren, dann kann ich zwar vielleicht noch irgendwie erlernen zu addieren und zu subtrahieren, spätestens aber bei der Multiplikation und Division wird es dann schwierig, ganz zu schweigen bei komplexeren Aufgaben, die ein gewisses Zahlenverständnis voraussetzen. Wenn die Basis nicht vorhanden ist, kann nicht lückenlos darauf aufgebaut werden. Nun ist es aber so, dass man den Umgang mit Zahlen nachholen kann, die Basis stärken kann und somit dann irgendwann in der Lage sein wird, auch komplexe Aufgaben lösen zu können. Entwicklungsschritte im jungen Alter kann man leider kaum noch ausbügeln und viele Dinge im Rahmen von Affektregulation, also die Fähigkeit Gefühle selbstständig zu kontrollieren und zu verändern, Einfühlungsvermögen und Motorik sind dann einfach nicht mehr möglich und können im schlimmsten Falle nie erlernt werden. 

Die wichtigsten und prägnantesten Phasen sind hierbei die ersten 2 Jahr des Säuglings bzw. Babys/Kleinkinds. In der ersten Zeit erlebt das Baby zwar nur die basalen Grundgefühle, aber alles gerät aus dem Gleichgewicht, wenn in dieser Entwicklung Dinge schief gehen. Es geht dabei um die 4 Grundbedürfnisse, die unser ganzes Leben eine Rolle spielen: um Orientierung und Kontrolle, um Bindung, Selbstwert und Lustgewinn und Unlustvermeidung. Das Baby ist noch orientierungslos, ist auf die Rückversicherung und Versorgung von Bezugspersonen angewiesen, auf Bindung und gute Gefühle angewiesen. Das alles kann es nicht alleine. Werden diese Bedürfnisse nicht erfüllt, entstehen die ersten Lücken in der Vernetzung und Entwicklung im Gehirn.

Mittlerweile gibt es mehrere Studien dazu, dass Säuglinge vom ersten Tag an über Basisemotionen „verstehen“, was um sie herum passiert und wie die Menschen mit ihnen umgehen. Selbst vor der Geburt im Bauch können Fötusse spüren, ob sie geliebt werden, ob es um sie herum Stress gibt oder Gefahr erlebt wird. Zudem besteht die Gefahr, dass eine unsichere oder desorientierte Bindung, ausgelöst durch traumatische Momente, entsteht.

John Bowlby, James Robertson und Mary Ainsworth sind Menschen, die sich mit Bindung beschäftigt haben und feststellten, dass man 4 Bindungstypen unterscheiden kann: Sichere Bindung (B-Typ), unsicher-vermeidende Bindung (A-Typ), ambivalente Bindung (C-Typ) und desorientierte Bindung (D-Typ). Da diese Dinge meiner Meinung nach unglaublich wichtig sind, möchte ich kurz etwas zu den Bindungstypen sagen und beschreiben, was sie charakterisiert und wie sie entstehen. 

Vorab ist wichtig, dass die ersten 6 Monate nach der Geburt als „Vorphase“ bezeichnet werden, die folgende Zeit bis zum 6./7. Monat die Phase der Personenunterscheidung ist, ab dem ca. 7. Monat entsteht tatsächliche Bindung und ab dem 2. bzw. 3. Lebensjahr lernen Kinder zu unterscheiden, welche Beziehung für was gut ist. Zielkorrigierte Partnerschaft nennt sich diese Phase.

Der B-Typ, die sichere Bindung, entsteht durch zuverlässige und prompte Rückmeldung von Bezugspersonen auf Signale des Säuglings, die adäquat umsorgend sind. Das Baby bzw. Kleinkind wird geliebt und verständnisvoll umsorgt. Alles ist in bester Ordnung. Kinder sind zufrieden, wenn Eltern in der Nähe sind, werden unruhig, wenn sie sich entfernen, freuen sich, wenn sie wieder da sind. Sie wissen aber intuitiv, dass Eltern zurückkommen.

Der A-Typ, die unsicher-vermeidende Bindung, lernt von seinen Bezugspersonen, dass meist nicht auf Signale reagiert wird. Eltern ignorieren das Kind. Dies ist dann auch in Form von Ignoranz bei Weggehen der Bezugspersonen beim Kind zu beobachten. Den Kindern scheint es nichts auszumachen, wenn Eltern gehen, sie scheinen aufs Spiel konzertiert. Im Speichel dieser Kinder konnte jedoch ein erhöhter Cortisol-Wert gemessen werden, der zeigt, dass die Kinder sehr wohl Stress erleben, ihn jedoch nicht zeigen, da sie gelernt haben, keine Reaktion darauf zu bekommen. Sie versuchen selber den Stress zu regulieren durch z.B. spielen, was in bestimmten Situationen irgendwann nicht mehr ohne Verhaltensauffälligkeiten funktionieren wird. Verlässlichkeit haben diese Kinder nie erfahren, oft orientieren sie sich sogar lieber an fremden Personen als an den eigenen Eltern. Schon hier können frühkindliche, komplexe Traumatisierungen entstehen.

Der C-Typ, eine ambivalente Bindung, entsteht, wenn Kinder ambivalente Rückmeldung von Bezugspersonen auf ihre Bedürfnisse bekommen. Sie werden manchmal wahrgenommen und befriedigt und manchmal nicht. Die Kinder lernen, dass nicht klar ist, ob man auf sie reagieren wird und genau so verhalten sie sich auch: mal lassen sie sich auf die Bezugspersonen ein und stoßen sie dann wieder weg. Oft schreien sie fürchterlich, wenn Eltern weggehen, lassen sich kaum beruhigen und beruhigen sich auch nicht, wenn Eltern wieder da sind. Es scheint als wären sie ständig im Zwiespalt zwischen einem unglaublichen Bindungsbedürfnis und Abwehr mit einhergehender Wut auf die Bezugspersonen. Auch hier sind frühkindliche Traumatisierungen möglich.

Der D-Typ ist der schwierigste Typ und geht am engsten mit Traumatisierungen einher. Die desorientierte Bindung entsteht, wenn von Bezugspersonen Gefahr in Form von Vernachlässigung, Gewalt oder Missbrauch ausgeht und Kinder trotzdem eine Bindung spüren.  Kinder sind von den Bezugspersonen abhängig, auf deren Versorgung angewiesen und diese Bezugspersonen sind aber genau die, die gleichzeitig auch Gefahr bedeuten. Es entsteht eine Doppelbindung, die Kinder nicht aushalten können. Mit diesem Typ gehen die meisten Verhaltensauffälligkeiten einher. Kinder erstarren, schaukeln sich, sind oft emotionslos und fühlen ständige Überforderung, Hilflosigkeit, Ohnmacht und Kontrollverlust. 

Der desorganisierte D-Typ kann auch entstehen, wenn Eltern selber traumatisiert sind. Eltern, die manchmal selber Flashbacks und Dissoziationen erleben, erstarren ggf. selber und zeigen einen ängstlichen Gesichtsausdruck. In diesen Momenten können sie auf die Signale ihrer Babys und Kinder nicht reagieren, die Kinder können den Gesichtsausdruck jedoch nicht zuordnen, erkennen aber die Gefahr im Blick der Bezugsperson. Dies führt ebenfalls zu einer Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit, die die Kinder Ohnmacht erleben lässt.

Zudem ist nachgewiesen, dass Eltern ihren Bindungstyp an ihre Kinder übertragen, automatisch und intuitiv und Studien belegen, dass Eltern mit einem desorganisierten Bindungsstil beispielsweise ein vielfach erhöhtes Risiko haben, dass auch deren Kinder einen desorganisierten Bindungsstil übernehmen. Keine gute Perspektive, sowohl für die Kinder als auch für das Umfeld.

Natürlich entstehen komplexe Traumatisierungen aber nicht nur im frühkindlichen Alter. Wir können in jedem Alter sequenziellen Traumata ausgesetzt sein. Ich erlebe es in der Praxis häufig im Rahmen von Kindesvernachlässigung, häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch innerhalb und außerhalb von Familien. Kinder werden weggesperrt, nicht versorgt, werden verbal erniedrigt, geschlagen, gefoltert oder jahrelang missbraucht, vergewaltigt oder genötigt. Die Folgen dessen sind kaum noch zu beheben und gehen mit komplexen Verhaltensauffälligkeiten einher. Wie oben schon erwähnt, können Kinder nur schwer lernen, ihre Gefühle, die unglaublich heftig und negativ in ihrem Erleben waren, zu regulieren. Auch wenn sie irgendwann z.B. aus der Familie herausgenommen werden und in einer netten Pflegefamilie oder einer Wohngruppe untergebracht werden, in denen Erwachsene die Kinder gut behandeln, ist die Chance gering, dass Kinder dies lernen, weil die Basisfähigkeiten im jungen Alter nicht erlernt wurden und ein Nachholen später oft nicht möglich ist oder aber sehr viel Geduld und eine sehr lange Zeit benötigt. 

Die Folgen sind, dass Kinder oft ausflippen, sich zurückziehen, immer wieder über Grenzen gehen, sich nicht bändigen lassen, anhänglich sind und einen dann wieder wegstoßen, Dinge stehlen, horten, zerstören. Sichere und zuverlässige Beziehungen und sichere Orte kennen sie nicht, haben sie nie erfahren. Demnach fällt es ihnen schwer, diese nach Beendigung einer furchtbaren Odyssee auszuhalten. Sie haben ja vielleicht nie gelernt, dass ihr Zustand unnormal ist und es eigentlich anders sein sollte. Die gut gemeinte sichere Umgebung im Anschluss ist ebenfalls eine völlige Überforderung, die Kinder oft mit destruktivem Verhalten sprengen, indem sie provozieren, um in ihrem Muster, dass nichts zuverlässig ist und sie irgendwann wieder geschlagen, gedemütigt oder weggegeben werden, bestätigt zu werden.

Auch Empathie bleibt bei komplexen Traumatisierungen auf der Strecke, dass andere enttäuscht sind, sich nicht gut fühlen oder andere traurig sind, ist für sie oft nicht nachvollziehbar und scheint ihnen „egal“. Sie haben es nie gelernt. Besitzen die Fähigkeit einfach gar nicht. Außerdem spüren sich komplex traumatisierte Menschen oft nicht mehr. Vor allem bei Kindern kann z.B. oft eine sexuelle eigene Stimulation beobachtet werden, was nicht immer auf einen sexuellen Missbrauch schließen muss, aber in den erogenen Zonen befinden sich die meisten Nervenenden und somit spüren die Kinder sich dort am intensivsten. Im Jugendalter kommt es oft zu heftigem selbstverletztem Verhalten, oftmals um sich selber spüren zu können.

Auch wenn Kinder sich zum Teil gar nicht mehr an die erlittenen Schrecksituationen erinnern können, wie z.B. ein Säugling niemals benennen können wird, dass die Mutter keine Rückmeldung gegeben hat und er Todesangst erlitten hat, sind trotzdem die erlebten Gefühle immer präsent und können durch Trigger reaktiviert werden. Ein strenger Blick einer Pflegemutter oder eine lautere Grenzsetzung des Pflegevaters und schon kann der Ego-State der Traumatisierungen erweckt werden. Kinder rasten aus, sind maximal erregt und verhalten sich für Beteiligte nicht nachvollziehbar. Wie auch, denn in dem Moment kommen Gefühle hoch, die so schrecklich sind, dass sie nicht aushaltbar sind, aber auch für niemanden nachvollziehbar sind. Und wenn man gerade erwartet, dass das Kind jetzt bitte seine Hausaufgaben erledigen soll, dann ist es erst mal eine große Herausforderung für den Erwachsenen, zu erkennen was passiert und dann noch adäquat darauf zu reagieren, aber darum soll es im nächsten Artikel gehen.

Auch im Jugend- und Erwachsenenalter kann es selbstverständlich zu sequenziellen Traumatisierungen kommen. Auch z.B. intensives Mobbing in der Schule kann zu einer komplexen Traumatisierung führen, Gewalt in einer Ehe, verbal oder körperlich, Folter, Missbrauch und andere Schikanen, zu denen Menschen fähig sind. Auch Erwachsene spalten die Erinnerungen manchmal ab, können sich nicht erinnern, aber auch da bleiben die Gefühle, die immer wieder aufkommen und eine unglaubliche Ohnmacht und Hilflosigkeit mit sich bringen und Menschen Dinge tun lassen, die weder nachzuvollziehen sind noch sinnvoll erscheinen.

Das Schlimmste ist meiner Meinung nach, dass komplexe Traumatisierungen ausgelöst werden, weil Menschen anderen Menschen etwas antun, und das ist unglaublich brutal und verstörend.

Schon beim Lesen wird deutlich, wie komplex diese Störung und Belastung tatsächlich ist und wie viele Dinge eine Rolle spielen. Schon ein solcher Artikel hat die Fähigkeit, eine gewisse Ohnmacht und Hilflosigkeit bezüglich dieser Störungen auszulösen, und dabei kann man sich trotzdem nur kaum vorstellen, wie es denen gehen, muss, die solche Dinge tatsächlich erlebt haben und damit leben müssen.

Auch wenn es keine Superheilung gibt, Traumatherapie erstmal gar nicht möglich ist und die Auffälligkeiten so komplex sind, gibt es viele Informationen, die für Menschen, die mit komplex traumatisierten Kindern wichtig sind und Hilfe mit sich bringen. Es gibt gute Möglichkeiten, Menschen zu begleiten und zu unterstützen, zu therapieren und zu lernen damit zu leben.

Um die Behandlungen von Traumatherapie soll es im nächsten Artikel gehen, sowohl um therapeutische Anteile als auch hilfreiche Mittel für beteiligte Personen.

erschienen im PATEN, Ausgabe 03/2018

TRAUMATISIERUNG - WIE SIE ENTSTEHT UND WAS WOR DARÜBER WISSEN SOLLTEN

EIN ÜBERLBLICK ÜBER MONOTRAUMA, FOLGEN UND KONSEQUENZEN
von Eva Schoofs

Das Kind ist traumatisiert… Ein Satz, den wir, zumindest ich, ständig hören. Ein großes Wort. Trauma. Ein Begriff, der verunsichert, hilflos macht, bei dem jeder die schrecklichsten Bilder vor Augen hat und ein Wort, das unglaublich viel bedeutet. Für jeden, der Schreckliches erlebt hat. Vor allem für Kinder, jedoch auch für Beteiligte und Angehörige. Aber was bedeutet es überhaupt, ein Trauma zu haben!?

Ein Trauma bedeutet, eine belastende Situation nicht gut verarbeiten zu können und dementsprechend darauf zu reagieren. Dabei sind hauptsächlich Situationen gemeint, in denen man in enormen Stress gerät: Situationen die mit Misshandlung, Folter und Tod zu tun haben. Situationen, in denen unsere ursprünglichen Instinkte sagen würden „Kämpf! Oder flieh!“ Wenn wir aber einfach keine Chance haben zu kämpfen oder zu fliehen, wir gefangen sind und unser Gehirn weiterhin Gefahr notiert, wird ein Notprogramm im Kopf gestartet, was sozusagen einem Einfrieren („Freeze“) gleicht. Wir sind zwar anwesend, erleben die Situation jedoch mit einem veränderten Bewusstsein. Völlig ungefiltert, ohne, dass unser Gehirn zuordnen kann, welche Eindrücke wie zu verarbeiten sind, speichert unser Gehirn das Geschehen dort, wo Platz ist, ohne es einordnen und verarbeiten zu können. Die Reaktionen auf solche Ereignisse sind unterschiedlich. 

Wie wir eine solche Situation verarbeiten, hängt von der Resilienz, der Widerstandsfähigkeit, des Einzelnen ab, mit Belastungen umzugehen. Manche Menschen sind von Natur aus robuster, andere sensibler. Ob jemand auf eine Belastung mit einem Trauma reagiert, ist zwar anhand von Risikofaktoren (wie der Bildungsstand, soziale Integration und weitere Ressourcen) zu schätzen, kann aber nicht vorhergesagt werden. Jeder reagiert also anders auf belastende Ereignisse: manche Menschen entwickeln ein Trauma, andere nicht. 

Unter denen, die mit einer traumatischen Symptomatik reagieren, unterscheidet man grob zwischen einer akuten Belastungsreaktion, einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und einer Anpassungsstörung.

Mit einer akuten Belastungsreaktion ist gemeint, dass die Symptome unmittelbar nach dem Ereignis auftauchen und nur ca. 48 Std. andauern. Hierunter fallen z.B. Rückzug, Konzentrationsschwierigkeiten, Desorientierung, Aggressionen, Hoffnungslosigkeit, eine erhöhte Anspannung und außergewöhnlich emotionale Reaktionen.

Bei einer PTBS tauchen die Symptome erst deutlich später auf und dauern länger an. Oft funktionieren wir zuerst noch völlig normal. Manchmal erlebe ich, dass Patienten nach ca. 3 Monaten reagieren. Ich habe aber auch schon Jugendliche erlebt, die nach Jahren erfolgreicher Verdrängung plötzlich die Symptome einer PTBS zeigten. Wie die Symptome konkret aussehen, wird im Verlauf noch deutlicher beschrieben.

Außerdem gibt es eine Art „abgeschwächte Version“ der Belastungsreaktion, die Anpassungsstörung, bei der das Ausgangsereignis nicht so drastisch sein muss. Hierzu zählen z.B. auch die Trennung der Eltern, Tod eines Familienmitglieds oder sogar ein Schulwechsel von der Grundschule auf die weiterführende Schule. Die Symptome sind ähnlich, wie die einer PTBS, müssen aber nicht alle zwingend erfüllt sein und treten „nur“ in leichterer Form auf.

Symptome einer traumatischen Reaktion sind meist dieselben: zuerst ist wichtig, dass der Auslöser ein belastendes Ereignis ist! Darauf folgen Verhaltensauffälligkeiten wie ein erhöhtes Arousal, ein erhöhter Stresspegel, der ständige Anspannung bedeutet. Auch Schlafstörungen, Reizbarkeit, Wutausbrüche und Konzentrationsschwierigkeiten können darunter fallen. Außerdem ist auch eine erhöhte Schreckhaftigkeit immer wieder zu beobachten. Zudem erleben wir Flashbacks und Intrusionen, Erinnerungen visueller und emotionaler Art, die wir nicht kontrollieren können. Urplötzlich fühlen wir uns in die Situation zurückversetzt, ohne, dass wir das wollen. In unserem Umfeld befinden sich oft „Trigger“, Dinge, Geräusche, Gerüche, Orte, die eine ungewollte Erinnerung an das Ereignis auslösen. Zudem gehört auch Vermeidung zu den Symptomen einer PTBS: Vermeidung von Orten, von Geräuschen, von Tätigkeiten, die wir mit der traumatischen Situation in Zusammenhang bringen. Das können ganz banale Dinge sein, eine Kirchenglocke z.B., die auch bei einem tätlichen Übergriff, den ein Patient erlebte, läutete oder der Anblick eines Eimers, der z.B. bei der Vergewaltigung einer Patientin neben ihr stand.

Ich merke oft, dass meine Patienten sich hilflos fühlen und denken, sie würden verrückt werden. Sie reagieren auf einmal anders, sind labil und fühlen sich angreifbar. Ihre Gedanken und Emotionen sind außer Kontrolle und sie erleben, dass sie nicht mehr so funktionieren, wie vor dem Ereignis. Zurecht beunruhigend. Das Wichtigste ist dann erst einmal zu erklären, dass diese Reaktionen normal sind. Dass wir alle so reagieren, wenn wir etwas außergewöhnlich Schlimmes erlebt haben und daraufhin eine PTBS entwickeln. Zudem ist es wichtig, auch bei den Bezugspersonen für Aufklärung zu sorgen, um Verständnis zu wecken. Jüngere Kinder und auch Jugendliche entscheiden sich manchmal gegen das Reden über einen Vorfall, aus Angst, dass sie noch einmal dasselbe fühlen müssen, dass sie die Kontrolle verlieren, wenn die Emotionen sie überfluten. Und Kontrolle verloren hat man sowieso schon während des Ereignisses; klar, dass man sich erst mal Sicherheit wünscht, um überhaupt weiter überleben zu können. Eltern, oder auch Bezugspersonen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer PTBS müssen deshalb informiert sein, welche Verhaltensweisen auftreten und wie sie damit umgehen können.

Gott sei Dank sind die Möglichkeiten einer Behandlung, gerade bei einem Mono-Trauma, einem einmaligen traumatischen Ereignis, sehr gut. Wir reden über komplexe Traumatisierungen, wenn Missbrauch, Folter, Misshandlung oder Verluste wiederholt und über einen längeren Zeitraum stattgefunden haben. Auf komplexe Traumatisierungen reagiert unser Kopf nochmal anders, dies wirkt sich schnell auf unsere Bindungs- und Beziehungsfähigkeit aus und diese sind schwieriger zu be- und verarbeiten als Monotraumata. Aber auch hier ist Psychotherapie eine gute Möglichkeit, die Erinnerungen zu verarbeiten und zu integrieren. Über komplexe Traumatisierungen, Folgen und Möglichkeiten wird es im folgenden Artikel gehen.

Was passiert denn eigentlich in unserem Kopf, wenn ein Trauma entsteht? Eine sehr gute Frage, die viele Kinder und deren Eltern haben, nachdem sie etwas Belastendes erlebt haben. Man könnte sich vorstellen, dass es im Gehirn eine Art Zentrale gibt, in der, wenn wir etwas erleben, von einer Seite Erinnerungen in Form von Bildern und Erinnerungsfilmen abgeliefert werden, von der anderen Seite bekommt die Zentrale die dazugehörigen Emotionen. In der Zentrale wird das Bildmaterial mit den Emotionen kombiniert und bearbeitet und dann in einen großen Erinnerungsschrank eingeordnet. Jede Erinnerung in eine passende Schublade. Wenn ich mich also an mein letztes Spaghetti-Eis erinnern möchte, bekommt die Zentrale den Auftrag „letztes Spaghetti-Eis suchen“ und es öffnet sich die passende Schublade und liefert mir die passende Erinnerung. Ich erlebe quasi noch einmal, wie ich auf der Wiese saß und wie herrlich die Erdbeersoße schmeckte. Ich spüre aufs Neue die Sonne auf der Haut und sehe den gierigen Blick meines Stiefsohnes auf die Waffel. Erinnerung zu Ende. Schublade wieder zu. Schön.

Wenn wir in Stress geraten, funktioniert die Zentrale im Gehirn allerdings nicht mehr so, wie wir es gewohnt sind. Wenn der Kopf nämlich den Alarm bekommt „Hier stimmt etwas nicht!“, wird zuerst Alarmstufe 1 aktiviert, es wird Adrenalin ausgeschüttet, um besser beobachten zu können und auf der Hut zu sein. Wir stehen unter Spannung, denn es könnte etwas passieren. Wenn das Gehirn die Rückmeldung bekommt „Alarm weiterhin bestätigt: hier stimmt etwas nicht, es sieht schlecht aus!“ wird Alarmstufe 2 aktiviert und das Gehirn gibt den Auftrag zu fliehen oder zu kämpfen. In der Regel mobilisiert der Körper dann alle verfügbaren Kräfte, um eben ganz dies zu tun: wegrennen oder kämpfen. Es gibt allerdings Situationen, in denen ist Flucht oder Kampf nicht möglich und wir kommen nicht weg, können uns nicht schützen und sind der Situation wehrlos ausgeliefert. Dann aktiviert sich automatisch Alarmstufe 3 im Gehirn, die Zentrale wird dann nämlich dicht gemacht, nichts wird mehr verarbeitet. Das ist eine Art Sicherheitsmodus, der das Gehirn vom Dekompensieren abhält. Allerdings werden die erlebten Bilder und Gefühle trotzdem ans Gehirn geleitet, nur kümmert sich keiner um die ordnungsgemäße Verarbeitung und die korrekte Einsortierung in die richtige Schublade. Die Erinnerungen kommen in irgendeine Ecke, liegen irgendwo rum… unsortiert und unberechenbar. In manchen Momenten merken wir nichts davon, und dann wieder, völlig unvorhergesehen, sind sie wieder da, ohne dass wir uns daran erinnern wollten. Dann sind wir gezwungen, die Bilder zu sehen und die Emotionen zu spüren, die wir im Ausgangsereignis erlebt haben und die wir am liebsten vergessen wollen.

Ich selber habe Gott-sei-Dank bisher „nur“ einen Autounfall gehabt, der im Anschluss derartige Symptome ausgelöst hat. Auf der Autobahn verlor jemand Kontrolle über sein Fahrzeug und drehte sich mehrmals quer über die Autobahn genau vor mein Auto auf der linken Spur. Bei 120 km/h. Alles ist gut ausgegangen und keiner wurde verletzt, lediglich die Autos waren sehr kaputt. Das Bild des schleudernden Wagens ist 3 Tage nonstop in meinem Kopf gewesen, dazu der Knall des Aufpralls, der Geruch des Airbags und die Angst zu sterben. Ich habe zwar funktioniert und konnte meinen Alltag bewältigen, war allerdings ein Nervenbündel, gereizt und schnell den Tränen nahe. Und immer wieder, ob beim Einkaufen, im Bett oder beim Kochen, lief der Film vor meinen Augen ab, nebenbei, einfach so. Nichts dagegen tun zu können hat mir ein absolutes Gefühl von Hilflosigkeit gegeben. Diesen Emotionen und Bildern ausgeliefert zu sein war sehr als unangenehm. Eine ganze Woche hat es gedauert, bis ich das Gefühl hatte, mich wieder unter Kontrolle zu haben. Bestimmt noch 3 Monate danach war die Autobahn ein Trigger. Ich fahre viel Autobahn, dort imaginierte ich oft Unfälle und sah auch dort immer wieder das schleudernde Auto. Ohne die Todesangst, Gott-sei-Dank. Seitdem bin ich eine noch schlechtere Beifahrerin. Adrenalinschübe bekomme ich allerdings nur noch, wenn ich heikle Situationen vor mir auf der Autobahn beobachte. Ich halte seitdem deutlich mehr Abstand und fahre vorausschauender.

Etwas über ein Jahr ist vergangen und die Situation ist nach wie vor sehr präsent. Und es war „NUR“ ein Autounfall, bei dem ich nicht verletzt wurde. Wenn ich jetzt sehe, dass meine Patienten Ereignisse ganz anderer Art erlebt haben (Vergewaltigung, Folter, Mord, Bürgerkrieg, Beschneidung oder andere Gewalt) kann ich mir kaum vorstellen, welches Ausmaß das mit sich bringt. Es bringt mich allerdings dazu, unglaublich viel Verständnis für meine Patienten aufzubringen, deren Welt völlig durcheinander geraten ist und die sich völlig verloren vorkommen müssen. Dazu kommt: ich bin Therapeutin, bin relativ reflektiert bezüglich meiner Emotionen und kenne die Symptome. Mir war bewusst, dass sie normal waren und ich kenne auch genug Techniken, die ich anwenden konnte, um mich zu regulieren. Habe ich auch getan. Und trotzdem ist es mir schon schwer gefallen und war nur schlecht auszuhalten… Wie bitte soll vor allem ein Kind oder eine Jugendliche, mit deutlich weniger Ressourcen, so eine Situation händeln…?!?

Man kann sich den Umfang und die Intensität der Auswirkung also nur schwer vorstellen. Prinzipiell gilt, wenn man unseren Stresspegel betrachtet, dass wir, wenn man sich uns vorstellt, mit den Herausforderungen unseres regulären Lebens ca. bis zu den Waden im Stress stehen. Kommt ein Beziehungskonflikt dazu, steht der Stress schon bis Mitte Oberschenkel. Dann vielleicht noch eine Klausurphase oder eine besondere Herausforderung auf der Arbeit, Stress hüfthoch… Ein Trauma sorgt dafür, dass uns der Stress regelrecht bis zum Hals steht. Es ist leicht vorstellbar, dass nur ein geringer Auslöser reicht, um auszuflippen, zu weinen, völlig zu eskalieren. So geht es vielen Menschen unter uns, die traumarisiert sind und täglich einen unglaublichen Stress aushalten müssen und einfach dadurch sehr labil sind. Es ist dann schwierig für Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene, im Alltag gut funktionieren zu können, die Schule gemeistert zu bekommen, ein Abitur zu machen, Kinder zu erziehen oder einen Haushalt zu führen… 

Dazu kommt, dass unsere Intuition nicht mehr richtig funktioniert. Traumata passieren in Situationen, in denen wir uns vorab meist sicher gefühlt haben, keine Gefahr geahnt haben. Manchmal passieren auch Übergriffe durch Menschen, denen wir vertraut haben. Wenn dann aus dem Nichts eine Freeze-Situation entsteht, die wir als belastend erleben, vielleicht Todesangst auslöst wird, funktioniert unser Vertrauen im Anschluss nicht mehr „normal“. Unser Kopf kann auf einmal nicht mehr erkennen, wo Gefahr herrscht und wo nicht – denn letztes Mal ist ja auch etwas Schlimmes passiert, als wir keine Gefahr erkennen konnten. Dies führt zu der überhöhten Anspannung, die nach dem Ausgangsereignis oft ein Symptom ist. Eine Patientin konnte z.B. nach einem Missbrauch nicht mehr unterscheiden, welche Männer nun gefährlich sind und welche nicht. Sie hat sich also von allen Männern ferngehalten. Dadurch war kein Busfahren mehr möglich, kein Einkaufen… Auf der Straße hat sie sich ständig bedroht gefühlt, konnte nur noch Signale wahrnehmen, die Gefahr bedeuten, fühlte sich, außer alleine zu Hause, nicht mehr sicher. Eine andere Patientin reagierte völlig hysterisch, wenn Menschen ihr zu nahe kommen. Arbeitskollegen, Freunde, Bezugspersonen. Überall lauert in ihrer Welt die Gefahr.

Es braucht Zeit und einen ausgebildeten Therapeuten, um alles wieder auf ein normales Level zu bringen und das traumatische Erlebnis zu verarbeiten. Vergessen wird man das, was passiert ist, nicht können, aber Therapie kann dazu beitragen, dass man ohne Affekt auf Erinnerungen reagiert. Man kann wieder selber entscheiden, an was man sich wann erinnern möchte, die Erinnerung wird berechenbar. Und man kann lernen auszuhalten, was passiert ist.

erschienen im PATEN, Ausgabe 02/2018