COVID-19 in der Psychotherapiepraxis
von Eva Schoofs
Ich möchte behaupten ich gehöre zu den Menschen, die gerne neue Dinge ausprobieren und sich neuen Herausforderungen stellen. Letztes Jahr zum Beispiel bin ich Fallschirm gesprungen, aus 4.000 m Höhe aus dem Flugzeug und ich bekomme jetzt noch Herzklopfen und einen Adrenalinschub, wenn ich daran denke. Unglaublich. Generell bin ich jemand, der Neuem und Veränderung eine Chance gibt und relativ flexibel auf Situationen reagieren kann. Und dann war 2020 und es kam Corona…
Auf einmal machen wir alle neue Erfahrungen. Gezwungener Maßen. Auf einmal passieren Dinge, die wir alle noch nie erlebt haben. Und plötzlich sind wir alle, wirklich alle, mit einer Pandemie konfrontiert, wovon wir bis Anfang 2020 noch nicht einmal genau wussten, was das eigentlich genau bedeutet. Und jetzt ist sie da und bringt Ungewissheit, Verunsicherung und Angst mit sich. Lässt Millionen Menschen erkranken, hunderttausende sterben und bringt unsere Wirtschaft in eine bedenkliche Lage. Ich kann mich noch sehr gut an den Moment erinnern, an dem meine Schwester, die Lehrerin ist, mich anrief, um mir mitzuteilen, dass das Schulministerium informiert habe, dass die Schulen in Deutschland schließen werden. Alle. Erst da hab ich angefangen zu begreifen, dass Corona doch mehr als eine schlappe Grippe ist und Dinge passieren können, die ich bisher noch nicht kalkuliert hatte. Die wir alle nicht kalkuliert hatten, wie sich herausstellen sollte.
Wir schreiben Geschichte. Auf so ganz andere Art und Weise, als ich mir erträumt hatte. Und anstelle von Ruhm, Glanz und Konfetti gibt es Angst, Hamsterkäufe und soziale Isolation.
Die Folgen des Shut-Downs sind gerade erst dabei in Erscheinung zu treten und was am Anfang vor den Osterferien in einigen Winkeln so aussah wie Entspannung, Durchatmen und relaxen entpuppt sich jetzt zu etwas anderem, Undefinierbarem, mit dem unguten Gefühl, dass es vielleicht nie wieder so wird, wie es mal war.
Eine Psychotherapiepraxis fängt in solchen Situationen an, augenscheinlich etwas ruhiger zu werden. Das war die Phase, in der zunächst alle das gute Wetter im Garten genutzt haben und die willkommene und spontane freie Zeit genutzt haben. In der es erste Irritationen darüber gab, ob Termine bei der Therapeutin nun wichtig sind oder nicht und wahrgenommen werden sollen, oder nicht. Da zeigt sich direkt nochmal aus einem ganzen anderen Blickwinkel, wer tatsächlich Behandlungsbedarf hat und wer nicht. Wer Angst hat. Wer nicht weiter weiß. Die schlauen Köpfe der Techniker haben Gott-sei-Dank sofort reagiert und die Möglichkeit der Videosprechstunde in kürzester Zeit als zulässige Behandlungsmaßnahme etabliert. Etwas, was in weiter Zukunft mal irgendwann hätte kommen sollten, kopfbeschüttelt von vielen Kollegen und für Patienten vor Wochen noch unvorstellbar.
Der Schein der Ruhe trügte, denn letztendlich war es nur die Zeit, in der beobachtet wurde, ob die Gedanken zum Worst-Case-Szenario ausgesprochen werden durften. War es die Zeit, in der abgewartet wurde, ob auch andere sich genauso viele Sorgen machten. Und spätestens bei den ersten Hamsterkäufen ist vielen klar geworden, dass es um mehr geht, als um 3 freie Wochen und Entspannung. Da ist zum ersten mal deutlich spürbare Verunsicherung und Angst aufgekommen.
Einige Freundinnen und Bekannte konnten auf Grund des Shutdowns nur wenig oder gar nicht arbeiten, sodass viel freie Zeit entstand „Eva, was machst du denn so den ganzen Tag?“, „Eva, von dir hört man gar nichts…!“ Leider nein, denn von diesem Zeitpunkt an ist die Praxis und mein Pensum auf 150% hochgefahren und ich möchte behaupten, da ist es noch heute. Der Grund, warum ich den Artikel auf den letzten Drücker schreibe, in den letzten Wochen meist nicht vor 12 ins Bett gekommen bin und mir trotzdem genau jetzt 100 Sachen einfallen, die mir dennoch durch die Lappen gegangen sind. Weil ich 59 Kreativ-Videos gedreht habe, täglich, um einen Patienten Ideen zu geben, wie sie den Tag gestalten können. Weil alles umgestellt werden musste auf online, alle wieder Bedarf hatten zu reden und die Angst irgendwo hin wollte.
Und die ganzen Reaktionen haben einen verständlichen Grund, denn was da gerade bei uns und mit uns passiert, ist zum einen sehr viel und zum anderen sehr tiefgreifend.
Um es gut erklären zu können muss ich vorne anfangen: wir alle haben ähnliche Bedürfnisse, die befriedigt sein müssen, damit es uns psychisch gut geht und wir glücklich sein können. Zum einen sind das die physischen Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wärme und Wasser, aber zum anderen auch die psychischen Grundbedürfnisse, die weitaus weniger ersichtlich sind, aber in Zeiten wie diesen eine große Rolle spielen und Erklärungsansatz für fast alle seltsamen Verhaltensweisen sind, die Covid-19 mit sich gebracht hat. Die psychischen Grundbedürfnisse sind nach dem wunderbaren Herrn Grawe das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, nach Bindung, nach Selbstwerterhöhung und nach Lustgewinn und Unlustvermeidung. Diejenigen, die das schon öfter von mir gehört haben und praktisch mitsprechen können, springen einfach zum nächsten Abschnitt.
Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle bedeutet, dass wir gerne ein gewohntes Umfeld haben und gerne wissen, was passiert. Wir mögen Rituale und gleichbleibende Strukturen. Meist nutzen wir immer die selben Strategien, wir stehen um die selbe Zeit auf, kaufen in den selben Läden, essen zur selben Zeit, fahren den selben Weg zur Schule oder zur Arbeit und spazieren am Sonntag oft die selbe Runde. So sind wir. Gewohnheitstiere. Durch unsere Rituale fühlen wir uns sicher.
Das Bedürfnis nach Bindung hat etwas mit Liebe und Zugehörigkeit zu tun. Wir mögen die Gemeinschaft und das Gefühl, Menschen um uns herum zu haben, die wir mögen und die uns gern haben. Das gibt ein Gefühl von Sicherheit und lehnt auch gleich am nächsten Punkt der Liste an. Beziehung sorgt dafür, dass wir uns gebraucht und wertvoll fühlen. Dass wir ein Mehrwert sind.
Wir brauchen außerdem Ereignisse die den Selbstwert erhöhen, Erfolgserlebnisse, Selbstwirksamkeitserfahrungen, das Gefühl, etwas gut zu können. Damit fühlen wir uns glücklich und zufrieden. Das motiviert uns neue Dinge zu lernen und uns zu entwicklen. Unser Motor.
Der letzte Punkt auf der Liste ist das Streben nach Lustgewinn und die Vermeidung von Unlust, was bedeutet, dass wir psychisch nur zufrieden sein können, wenn wir oft Dinge tun können, die uns Spaß machen. Wenn wir oft und lange gezwungen sind, Dinge zu tun, die wir nicht mögen, die uns langweilen oder die wir ablehnen, dann wird uns das auf Dauer sehr unglücklich machen. Ich kann das in der Praxis bei vielen Eltern im Job beobachten. Oder sogar in der Ehe. Eigentlich gefällt es ihnen gar nicht, ist der Job nur noch nervig und die Partnerschaft weit entfernt von dem, was man sich gewünscht hatte, aber der soziale Druck, was passiert, wenn man sich verändert und die Ungewissheit, wie es dann wird, lässt die Menschen aushalten. Oft mit den Folgen einer Depression. Weil langfristig das Bedürfnis nach Lustgewinn nicht gedeckt ist und die Psyche irgendwann reagiert.
Aber was hat das alles jetzt mit Corona zu tun. Letztendlich eine ganze Menge, denn eigentlich werden all diese psychischen Grundbedürfnisse aktuell gestört. Der Reihe nach: Orientierung und Kontrolle ist völlig durcheinander, weil aktuell nichts mehr so ist, wie wir es kennen. Viele Geschäfte, in denen wir eingekauft haben, waren nicht geöffnet. Bei vielen Erwachsenen haben sich die Arbeitsstrukturen verändert von Kurzarbeit, über Homeoffice oder kompletten Ausfall. Welche Gedanken finanzieller Natur sich dahinter auftun ist ein weiteres Thema. Die Kinder können nicht mehr in die Schule oder in den Kindergarten, der Tagesablauf sieht auf einmal völlig anders aus und dem Hobby nachgehen zum Ausgleich zu dieser ganzen Veränderung kann man nicht, weil auch da Corona herrscht. Unser kompletter Ablauf wurde gestört, unseren Ausgleichsstrategien können wir nicht mehr nachkommen und treffen, um uns auszutauschen ist auch nicht mehr möglich. Uns wurde eigentlich jegliche Orientierung genommen. Und das meine ich nicht kritisch gegenüber dem System, ich bin fest davon überzeugt, dass diese Maßnahmen unabdingbar waren, um Corona in den Griff zu kriegen. Wir sind leider den Umständen ausgeliefert. Veränderte Öffnungszeiten, Anstehen vor dem Supermarkt, keine öffentlichen Besuche mehr möglich, Ausgang nur zu zweit oder mit den Menschen aus dem Haushalt. Wer hätte gedacht, dass uns das jemals passieren könnte. Ich jedenfalls nicht.
Gleich angeschlossen daran ist unser Bedürfnis nach Bindung. Glück haben letztendlich alle die, die mit Familie zusammen oder in einer WG wohnen. Für alle die, die alleine wohnen bedeutete die letzte Zeit fast ausschließlich Isolation. Gut, wenn man ein Haustier hat, gut, wenn man Freunde hat, die bereit waren, sich zu treffen. Schlecht, wenn man älter ist und vor allem zu einer Risikogruppe gehört. Denn der Kontakt zur Außenwelt hat sich minimiert. Ich habe in den letzten Wochen schon unfassbar viele frustrierte Erwachsene getroffen, denen die Sozialkontakte enorm fehlten und die beschrieben, wie genervt sie von der Situation waren. Wie schrecklich es war, als der Zustand von „ach wie entspannend – Zeit für mich“ in „oh mein Gott, ich bin so einsam“ wechselte und unerwartet aufs Gemüt schlug. Und dabei rede ich nicht von einer schlechten Laune und Unzufriedenheit, sondern von einer sich einschleichenden tiefen Einsamkeit, die Konsequenzen wie Antriebslosigkeit und destruktive Gedanken mit sich bringt. Einsam sein konfrontiert viele von uns mit tiefen Ängsten. Eine weitere Belastung auf der Liste der psychischen Gesundheit.
Selbstwerterhöhung ist der nächste Punkt auf der Liste und auch der wurde stark vernachlässigt. Weil wir den Dingen, die wir gerne machen, für die wir Bestätigung bekommen, nicht mehr oder nur noch beschränkt nachgehen konnten: was passiert mit uns, wenn uns Lob und Bestätigung fehlt? Wenn wir keine Erfolgserlebnisse mehr haben in dem Gebiet, in dem wir eigentlich gut sind? Es wirkt sich auf die Stimmung und die Motivation aus! Wenn die positive Rückmeldung ausbleibt, dann macht es weniger Spaß, dann haben wir weniger Durchhaltevermögen und sehen oft den Sinn im Weitermachen und Streben nach Besserem nicht. Und gerade jetzt ist Durchhaltevermögen und Ausdauer mehr gefragt denn je. Und die positive Überzeugung, dass alles wieder gut wird. Nicht so einfach bei all dem, was gerade fehlt.
Lustgewinn und Unlustvermeidung konnte auch nicht wie gewohnt verfolgt werden, da viele Dinge, auf die wir Lust haben, schlichtweg nicht stattgefunden haben. Einen Nachmittag in der Stadt, ein Abendessen mit Freunden im Restaurant, ein Tag am See mit den Freunden der Kinder. Wir waren gezwungen uns mit dem zu begnügen was da war, Kartoffeln statt Nudeln oder Reis, Onlineshopping statt Kauferlebnisse im Laden, Videoanrufe statt Kaffee im Garten. Die Einschränkung war überall sehr deutlich zu spüren, die Straßen leergefegt und still, die Kölner Innenstadt glich einer Geisterstadt. Niemand auf der Straße, überall Zettel „aufgrund der aktuellen Lage…“, verschreckte Gesichter und huschende Gestalten. Dass ich das erleben werde, hätte ich nie gedacht. Und wir alle sind beeinträchtigt, weil keines der Grundbedürfnisse mehr so erfüllt ist wie wir es gewohnt sind. Auf unbestimmte Zeit. Gepaart mit der Angst zu erkranken, Menschen zu verlieren oder sogar selber zu sterben.
Und was dazu nicht außer Acht gelassen werden kann: das zur Ruhe kommen vor den Osterferien, zu dem viele Menschen gezwungen waren, ist nicht immer erholsam und entspannend. Vielleicht in einem kurzen Moment, indem wir verschnaufen und uns freuen, dass wir frei haben. Aber dann, wenn wir so langsam Unruhe merken und den Fakt, dass wir uns nicht selber für die Auszeit entschieden haben, sondern gezwungen sind, dann wollen wir wieder in unseren gewohnten Rhythmus und los legen. Unser Alltag ist nämlich auch eine Art Ablenkung. Ablenkung von unseren Gedanken, Problemen, von unseren tiefsten Ängsten, von unseren Glaubenssätzen, Zweifeln und dunklen Seiten. Und all das kommt zum Vorschein, wenn wir nicht mehr abgelenkt sein können und uns auf uns fokussieren können.
Manche Menschen lassen diesen Zustand absichtlich aufkommen, in dem sie beispielsweise in ein Schweigekloster gehen. Wochenlang nur mit sich selbst beschäftigt sein ist nicht langweilig, ganz im Gegenteil. Nach einiger Zeit kommen genau die Themen auf, die uns zutiefst beschäftigen und auf die wir meistens keine Lust haben. Sie holen uns ein. Und für diese tiefen Gedanken und Ängste gibt es zwei Möglichkeiten. Sich ablenken oder sich stellen. Sich ablenken ist eine bewährte Methode, die fast jeder täglich benutzt. Ablenken durch Alltag, durch Aufgaben, durch auferlegte Pflichten. Ablenkung funktioniert phantastisch. Aber wir lassen damit den echten, inneren Kern nicht zu. Denn der würde uns mit unseren tiefsten Ängsten und Sorgen konfrontieren. Und dann müssten wir aushalten. Eigentlich dauert ein Gefühl nur einige wenige Minuten und dann ebbt es wieder ab, wenn wir es einfach kommen lassen, es aushalten und auch wieder gehen lassen. Manchmal aber kommen da so ursprüngliche und tiefe Sachen hoch, die wir partout nicht aushalten wollen, weil wir denken, dass wir daran zerbrechen. Tun wir gar nicht, aber es fühlt sich für einen Moment so an. Letztendlich ist Aushalten und sich dem stellen der einzige Weg, darüber hinweg zu kommen und das Thema für sich zu bearbeiten, es aus dem Weg zu räumen, damit leben zu können. Aber es ist auch anstrengend. Und genau diesem Zustand sind einige Menschen in letzter Zeit ausgesetzt gewesen. Gezwungener Maßen. Weil die tägliche Routine und das abgelenkt-sein weg gefallen sind. Und nicht alle sind dazu gekommen, sich zu stellen und damit praktisch einen Schritt weiter zu gehen und sich zu entwickeln. Ich möchte behaupten das ist auch nicht in jeder Lebenslage möglich und eigentlich ist die Grundvoraussetzung für die Bearbeitung tiefer Ängste und Gedanken ein stabiles Umfeld und ein stabiler eigener Zustand. Den haben wir gerade aber nicht. Das beutetet es brechen Dinge auf, die in dem Moment nicht aufgefangen werden können. Einige Menschen sind auf komische Gedanken gekommen, haben sich neue Routinen und Ablenkungen entwickelt und somit kompensiert.
Manche waren erschreckt über die eigenen Gedanken, über die Entwicklung der eigenen Ängste. Sind erstarrt, depressiv reagiert oder haben es mit Aktivismus im kleinen Kreis versucht zu überwinden. Mit Hilfe guter Selbstreflektion ist einiges möglich. Aber Selbstreflektion liegt ja noch lange nicht jedem.
Und einige sind auf ganz schräge Kompensationsideen gekommen. Und selbstverständlich kann man das nicht verallgemeinern, aber in manchen Fällen sind Kinder zu Schaden gekommen. Durch Überforderung und daraus resultierender körperlicher Gewalt. Durch zu kurz gekommene Bestätigung und Machtstreben in Erziehung oder in der Partnerschaft. Durch Übergriffe an den eigenen Kindern, um Spannungen abzubauen und sich Selbstwirksamkeit zu verschaffen. Und wir können trotzdem nur erahnen, was hinter verschlossenen Türen passiert. Einige Situationen haben mir in der Krise den Atem geraubt. Haben dazu geführt, dass ich den starken Wunsch hatte, in Quarantäne zu sein, um 2 Wochen weg von dem Wahnsinn und der Verantwortung zu kommen und einfach nur schlafen zu können. Um verdrängen zu können, dass es so was auf dieser Welt gibt. Aber Gott sei Dank sind diese Momente nur kurz und meine Funktionsmechanismen hoch.
Und das was da draußen passiert sind die Reaktionen, die Menschen zeigen, wenn sie in belastende Situationen kommen. Und es erinnert an Traumata. Im traumatischen Kontext nennt man das Fight, Flight oder Freeze. Kampf, Flucht oder Erstarren. Und genau diese Dinge sind gerade zu beobachten. Denn der Verlust der Kontrolle, den wir erleben, ist nicht für alle gut auszuhalten. Wir alle haben unterschiedliche Widerstandskräfte und verfügen über unterschiedliche Ressourcen und so kommt es, dass einige ruhig bleiben und beobachten, sich abschirmen und sich auf die eigenen Dinge konzentrieren, neue Strukturen schaffen und das beste aus der Situation machen. Es gibt die, die Widerstand leisten und kämpfen. Sie protestieren, zweifeln an, brechen Regeln. Und manche kaufen Klopapier und Nudeln. Ebenso eine Art von Kampf, das Gefühl haben, sich schützen zu können. Vorbereitet zu sein. Etwas aktiv getan zu haben um den Zustand vielleicht unbeschadet überleben zu können.
Es gibt auch die, die sich von allem fern halten, um sich selber zu schützen, aus großer Angst heraus. Nirgendwo mehr hin gehen, überall Gefahr sehen und sich verkriechen. Diejenigen, die sozusagen flüchten.
Und dann gibt es die, die erstarren. Vielleicht erscheinen sie auf den ersten Blick wie die, die fliehen. Aber der Unterschied ist, dass sie keine Entscheidungen mehr treffen können, nicht mehr handlungsfähig sind. Dass sie einfach nur noch existieren und keine Kontrolle mehr über sich und ihr Denken haben. Ein furchtbarer Zustand und kaum auszuhalten. Vor allem im Freeze besteht die große Möglichkeit, psychisch nicht unbeschadet aus der Nummer heraus zu kommen, weil man eben nicht mehr handlungsfähig ist und in diesem Moment neben Angst noch nicht mals mehr Selbstwirksamkeit erlebt (wie es bei Flucht oder Kampf schon noch die Erfahrung ist). Und in diesem Moment wirkt das ganze dann wie ein reguläres Trauma, über einen sehr langen Zeitraum. Denn in dem Moment absoluter Bedrohung, wie während eines Überfalls oder einer Vergewaltigung, greifen die selben Mechanismen. Und wenn Flucht und Kampf nicht möglich sind, dann entsteht ein Freezemoment, der langfristige Folgen mit sich bringt. Dann lieber Nudeln und Klopapier kaufen. Denn das bedeutet, handlungsfähig zu sein.
Letztendlich war der oben beschriebene Teil aus Sicht der Erwachsenen, wie Corona auf einen gesunden Erwachsenen wirkt. Und wir haben noch nicht darüber gesprochen, wie es Menschen geht die vorab schon eine psychischen Belastungen hatten, die erkrankt sind und es durch die Krise mit multiplen Belastungen schaffen müssen. Menschen, die mit finanziellem Minimum auskommen müssen. Wir reden schon jetzt von einer unglaublichen Belastung für einen gesunden und gut funktionierenden Erwachsenen. Für Kinder und belastete Menschen bedeutet die ausbleibende Erfüllung der Grundbedürfnisse noch eine viel größere Belastung.
Aber was bedeutet Corona für unsere Kinder? Unsere Kinder sind von uns Erwachsenen abhängig, je jünger desto mehr orientieren sie sich an uns. Gucken auf unser Verhalten und schwingen auf unserer Stimmungen mit. Übernehmen unsere Strategien und lösen Konflikte wie wir es ihnen vormachen. Und was passiert, wenn die Erwachsenen jetzt irritiert sind? Angst haben. Verunsichert sind. Flüstern und ständig Nachrichten gucken. Letztendlich sind Kinder noch viel mehr irritiert. Weil sie zum einen nicht verstehen, warum sich alles verändert und was los ist und zum anderen die Unsicherheit und Angst der Erwachsenen spüren, die keiner vor den sensiblen Kindern verbergen kann. Und ich befürchte Kinder können noch weniger mit dem Begriff Pandemie anfangen als wir, wissen nicht was Ansteckungsrisiko bedeutet und denken in ihrem naiven Denken Gott-sei-Dank nicht daran, dass Covid-19 tödlich sein könnte.
Aber für sie gibt es auch keinen gewohnten Alltag mehr, sie dürfen sich nicht mehr frei bewegen, nicht mehr auf den Spielplatz. Nicht mehr mit den anderen Kindern spielen, nicht mehr in den Kindergarten, in die Schule, nicht mehr treffen, nicht mehr zum Hobby. Kinder haben zudem noch ein völlig anderes Zeitempfinden. Für Kinder im Alter von 4 fühlt sich eine Woche wie für uns 3 Monate an. Wir haben also nur einer geringe Vorstellung davon, wie lang sich der Shutdown für die Kleinen angefühlt haben muss. Und dann waren sie zu Hause mit ihren Eltern. Manche Eltern sind richtig aufgeblüht und haben die Chance genutzt, viel Zeit mit den Sprösslingen zu verbringen. Haben die Kinder aufgefangen. Erklärt, die Welt gezeigt und ihnen Strategien beigebracht, die Krise zu bewältigen. Ihnen fiel es 90% der Zeit leicht, die Kinder zu beschäftigen, Ruhe einkehren zu lassen und die kleine Familie das Zentrum des Lebens werden zu lassen. Aber es gibt eben auch die Eltern, die das nicht so gut schaffen. Die gar nicht die Nerven haben, sich so lange mit ihren eigenen Kindern zu beschäftigen. Vielleicht vor lauter eigener Angst, vielleicht, weil nicht genau klar war, was Kinder kriegen und sich kümmern eigentlich genau bedeutet, weil sie es vielleicht nie gelernt haben und bisher nicht mussten. Und was genau bedeuten genervte Eltern in diesen Zeiten für hilflose Kinder? Wir merken, es entsteht unglaubliches Potential dafür, dass gerade einiges schief gehen kann. Denn die Folgen, wenn den Kindern keiner die Angst nimmt, werden erst später zu sehen sein und werden keine guten Entwicklungen mit sich bringen.
Zudem kommt für die Kinder das Wegfallen der Schule. Zwar meckern sie meist, aber es ist ihr Grund um aufzustehen. Eine Beschäftigung mit sinnvollem Inhalt. Ihre Aufgabe. Selbstwirksamkeit und Erfolgserlebnisse von 8 bis 1 Uhr mindestens. Bestätigung und Wertschätzung für Arbeit und Einsatz. Treffen mit Freunden, Austausch, Spaß. Fällt alles weg. Was bleibt: zu Hause. Handy, PC, Playstation, Fernseher.
Nicht wenige Jugendliche, vor allem die, die einen tatsächlichen Sinn im Lernen sehen, entwicklen aktuell depressive Tendenzen und fangen an, an sich zu zweifeln. Zu grübeln und zu stagnieren. Weil es nicht genügend Fortschritt und Rückmeldung gibt, nicht genug Bewertung, das was sie sonst angetrieben hat. Worüber sie sich definiert haben. Was der Grund für Motivation und Wachsen war. Eingeschlafen. Vor allem im Rahmen der Pubertät ist die aktuelle Situation ein hohes Risiko für die Entwicklung von psychischen Störungen. Und die Therapeuten sind schon überlastet mit dem, was vorher da war.
Kommen wir noch zu den Patienten, die schon einmal ein Trauma erlebt haben. Die sowieso schon instabil sind. Die sowieso schon jeden Tag um ihr Überleben gekämpft haben. Das, worauf sie zurück gegriffen haben, was nach einem Trauma benötigt wird, ist Orientierung und Kontrolle. Weil wir absolute Kontrolle verloren haben, benötigen wir genau die, um wieder Sicherheit zu erlangen und uns orientieren zu können. Sie ahnen es, denn ich habe es schon gesagt. Fällt weg, in Zeiten von Corona. Und das bedeutet, dass alle Menschen, die sowieso schon traumatisiert sind, aktuell in einem noch viel fragilerem Zustand sind, weil ihr Mechanismus, der sie vor weiterem Leiden schützt, nicht mehr existent ist. Weil der weg fällt und das bedeutet erneute Unsicherheit. Wie sich das auf das Befinden auswirkt ist unterschiedlich. In der Regel greifen Menschen darauf zurück, was schon einmal geholfen hat. Wenn ich das jetzt auf früh- und komplex traumatisierte Kinder beziehe, würde das bedeuten, dass sie in alte Verhaltensmuster zurückfallen, die mal ihre Überlebensstrategien gewesen sind. Verhalten, an dem Pflegeeltern vielleicht jahrelang gearbeitet haben, um neue Strategien anzulernen. Generell werden traumatisierte Menschen in Not das tun, was ihnen notwendig erscheint um zu überleben und das muss in erste Linie nicht das sinnvollste sein. Es muss sich sicher anfühlen. Deshalb reagieren manche Menschen gerade mit wirklich auf den ersten Blick „schrägen“ Verhaltensweisen. Aber jeder hat andere Bedürfnisse in der Krise, managt die Situation auf seine Art und Weise. Und eigentlich ist das noch nicht mal zu kritisieren, anzuzweifeln oder in Frage zu stellen. Es geht ums psychische Überleben.
Meiner Meinung nach sollte gar nicht geurteilt werden oder kritisiert werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir alle unser Bestes geben und alle nur einen Weg finden wollen, es auszuhalten und zu meistern. Wir sollten Verständnis haben und dankbar sein, das wir nicht alle gleich sind, denn ansonsten hätte es schon bei den Nudeln und dem Klopapier ein noch größeres Problem gegeben. Der erste Antreiber in dieser zeit ist Angst. Angst vor Krankheit, Angst vor Ungewissheit und Angst vor sich selber. Wir lassen also jeden sein wie er ist und konzentrieren uns auf uns.
Das Resultat des Ganzen ist, dass die aktuelle Situation uns alle in einen extrem fragilen Zustand befördert und da nicht alle ein gleich gutes Gespür für sich selber haben, werden manche folgen erst zu sehen sein, wenn es schon zu spät ist. Denn Glaubenssätze und dysfunktionale Überzeugungen entstehen in Stresssituationen. Jetzt gerade ist die Geburtsstunde vieler Überzeugungen, die uns in Zukunft im Weg stehen werden. Die Zeiten sind gefährlich und anstrengend für die Psyche, weshalb der beste Tipp wie immer ist, bei sich zu sein und auf die eigene Intuition zu hören. Wir alle sind Experten für uns selber und wissen, was uns gut tut. Und das muss nicht das sein, was unser Nachbar oder unserem Kind oder unserer Mutter gut tut. Jeder darf das tun, was für ihn sinnvoll ist. Und dann hoffen wir einfach, dass wir Schritt für Schritt diese Krise bewältigen und irgendwann dahin zurück kommen, wie es mal war.
Und um auch zumindest noch einen positiven Satz am Ende zu erwähnen, bei all dem Schrecken: wich finde wir sind schon jetzt über uns hinaus gewachsen. Viele Menschen haben ihren Radius und ihre Fähigkeiten erweitert, haben sich getraut Dinge zu tun, die sie vorher niemals gemacht hätten. Für viele Therapeuten ist das beispielsweise die Videosprechstunde. Viele Menschen haben sich digitalisiert um flexibler zu sein, Menschen sind wieder kreativ geworden, solidarisch, haben Unterstützung organisiert und Hilfe angeboten. Letztendlich hat jede Situation immer 2 Seiten. Und auch Corona hat was Gutes. Trotzdem ist es an der Zeit zu gehen, Covid-19. Danke für Nichts.